Ein interessanter Vortrag, der zum Diskutieren herausfordert.
Von Eva Novotny, im Rahmen des ÖLI-UG Seminars in Zeillern am 23.09.2014
Verschiedene Stakeholder – widersprüchliche Ziele.
Wo stehen/bewegen sich Lehrer_innen?
Ich beschäftige mich nun schon über 40 Jahre mit dem Thema Lernen und somit unter anderem mit dem Feld Schule.
Mein Interesse gründet nicht zuletzt in dem Umstand, dass ich – in deutlichem Kontrast zu meinen Schulkolleginnen – dass ich die längste Zeit leidenschaftlich gern in die Schule gegangen
bin.
Und ich habe dort auch etwas gelernt!
Ich hatte allerdings gute Voraussetzungen.
Die wichtigste war sicher meine Respektlosigkeit. Meine Schulkameradinnen beneiden mich bis heute darum.
Für mich war die Schule ein Experimentierfeld. Ich konnte mich ausprobieren – in Konfrontation mit Menschen, mit Wissen, mit Leistung.
Das hat mich in Konflikte gebracht.
Dabei habe ich viel gelernt. Wichtig war, dass meine Eltern grundsätzlich hinter mir gestanden sind. Auch sie hatten keine übertriebene Ehrfurcht vor der Schule. Ein großer Vorteil!
Ich komme auf das Thema noch zurück.
Schule stand stets unter Beschuss – von links und von rechts.
Immer wieder stellen mir Leute dieselben Fragen:
Warum wird dieses, warum jenes nicht beherzigt in der Schule?
Naiv gehen sie davon aus, es ginge in der Schule ums Lernen und dass allgemein Einigkeit darüber bestünde, was darunter zu ver-stehen sei.
Dem ist aber nicht so.
Des Weiteren wird allgemein angenommen, dass Schule sozusa-gen naturgemäß ein Ort der Bedrängnis sein müsse.
Auch das trifft nicht zu.
Meine Forschungen haben ausnahmslos gezeigt, dass Kinder und Jugendliche nicht prinzipiell widerständig und unberechenbar sind, wenn es ums Lernen geht.
Sie reagieren durchaus verständlich und kalkulierbar auf mehr oder weniger konstruktive Angebote der Erwachsenen.
Es lässt sich ganz konkret angeben, worauf es ankommt, auf dass Kinder und Jugendliche wissenschaftliche Neugier, Explorations-freude und Wissensdrang entwickeln.
Unter welchen Umständen sie auch weiterhin lernbereit bleiben und die Schule nicht schwänzen.
Ebenso, unter welchen Bedingungen das Geschlecht, der soziale Status oder ein Migrationshintergrund nicht ihre diskriminierende Wirkmächtigkeit auf die Leistungsbereitschaft der Kinder und
Ju-gendlichen entfalten.
Das waren stets meine Gütekriterien für Schule.
Meine Befunde konnten zudem stets demonstrieren,
wie sehr sich Schulen und Lehrkräfte in ihrer Ausrichtung auf Er-mutigung ihrer Anbefohlenen zu Neugier und Streben nach Kompetenz unterscheiden
und welche Effekte sich daraus für den Lehrerfolg sowie auf mehr oder weniger regelgemäßen Schulbesuch ergeben.
Nicht immer waren meine Auftraggeber froh über meine Befun-de.
Repräsentanten des Schulsystems gefallen sich in der Erzählung, dass es in der Schule einfach menschelt, dass also weitgehend Unberechenbares waltet.
Das größte Gewicht schreiben sie gerne dem Herkunftsmilieu der Schülerinnen und Schüler zu und auch dem Einfluss der Medien – nicht erst seit es Internet gibt!
Meine eigenen und viele andere Studien zeigen allerdings, dass sehr naheliegende innerschulische Faktoren den Erfolg beeinflus-sen:
Nämlich:
sachliche Klarheit sowie Vorhersagbarkeit des Verhaltens der Lehrkräfte und des Unterrichtsgeschehens;
Fairness, Toleranz und individuelle Unterstützung seitens der Leh-renden – generell Ermutigung und Wertschätzung.
Weiters: gute Vorbereitung und angemessene Forderungen im Zusammenhang mit Prüfungen und Hausaufgaben;
Durchschaubarkeit der Leistungsbeurteilung;
Spannung und Spaß im Unterricht;
Und sehr wichtig: eigenständige Aktivität sowie Mitbestim-mungsmöglichkeiten.
Schließlich die Erfahrung, dass sich Anstrengung lohnt.
Sind solche Bedingungen weitgehend erfüllt, nehmen Kinder ihre Schule als Lebensraum an und akzeptieren deren Anforderun-gen.
Dann entwickeln sie Explorationsfreude, Wissensdrang sowie Ver-trauen in die eigene Leistungsfähigkeit.
Diese Faktoren erweisen sich auch als Puffer für gesellschaftlich bedingte Entwicklungsbehinderungen von Mädchen und sie vermögen den allgemein zu beobachtenden Motivationsrück-gang mit
fortschreitendem Schulbesuch abzufedern.
Als kontraproduktiv erweisen sich hingegen immer wieder:
Leistungsdruck, Disziplinierung, Kontrolle, sanktionierende Strenge und die daraus resultierende Angst aufseiten der Kinder.
Auch die Ausstattung der Schule und der Bewegungsspielraum für die Kinder spielen selbstverständlich eine Rolle.
Viele der beschriebenen Faktoren zeitigen ebenso nachvollzieh-bare Effekte auf das Wohlbefinden der Lehrpersonen.
Es handelt sich um plausible Zusammenhänge!
Man könnte erwarten, sie würden in Schulen beherzigt.
Zumal man in Österreich schon lange weiß, was gute Schulen ausmacht.
Seit der reformpädagogischen Bewegung in der ersten Republik, als der gute Ruf der »Wiener Schulreform« unter Stadtschulrats-präsident OTTO GLÖCKEL Wien international zum Mekka in
Unter-richtsfragen gemacht hat.
In Freien Schulen, in Kinderrepubliken, in selbstverwalteten Som-merlagern und in der Individualpsychologischen Versuchsschule waren damals Gewaltfreiheit und ein demokratischer Lebensstil die
erklärten Erziehungsziele. Die Förderung von Phantasie und Gestaltungskraft jedes Kindes, Erziehung zur Eigenverantwortung, offene Debatten, gemeinsames Entscheiden und Kooperation bildeten den
Rahmen einer Pädagogik ohne Straf- und Druck-maßnahmen.
Es ist bezeichnend, dass dieser vorbildliche Aufbruch, an dem sich das Who’s Who der fortschrittlichen Intelligenz des Landes betei-ligt hatte, in der zweiten Republik nicht fortgesetzt wurde.
Damals unterrichteten OSKAR KOKOSCHKA, ADOLF LOOS, ARNOLD SCHÖNBERG, EGON WELLESZ, HANS KEHLSEN, ALFRED ADLER, MAX ADLER, KARL KAUTSKY und RUDOLF SERKIN an den Schulen.
Immerhin gibt es seit Ende der 1970er-Jahre eine Reihe von Schulversuchen. Deren Evaluierung brachte ähnliche Wirkfakto-ren zutage, wie ich sie bereits beschrieben habe.
Es gibt also viel Wissen über gedeihliches Unterrichtsgeschehen.
Um dieses Wissen umzusetzen, braucht es keine strenge Selektion für Lehrerinnen und Lehrer, nicht einmal unbedingt eine neue Ausbildung. Viele bringen ein lernförderliches Schulethos schon lange
ausgezeichnet zuwege.
Es ist vor allem eine Frage des Selbstverständnisses einer Schule und eine der Beweggründe ihrer Lehrkräfte.
Wo in Schulen das Anliegen vorherrscht, alle ihre Schülerinnen und Schüler mögen die Bildungsziele erreichen, da werden ent-sprechende Anstrengungen gesetzt – meist erfolgreich.
Wo sich Schulen und Lehrende hingegen als Ausleseinstanzen verstehen, wo sie schwierige Schülerinnen und Schüler leicht los-werden, weil es Schultypen und ‚Leistungsgruppen‘ gibt, die die-se
auffangen müssen, da werden sie ihre Aufmerksamkeit vor al-lem jenen Kindern und Jugendlichen widmen, die für sie leicht er-reichbar sind. Das sind meist solche, die den kulturellen Hinter-grund
mit den Lehrerinnen und Lehrern teilen. Sie bringen eine gute Lernmotivation bereits mit, weil sie von Eltern entsprechend inspiriert werden.
Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernem Milieu, die sich in der Schule zunächst nicht heimisch fühlen und auch den Lehr-kräften unheimlich sind, geraten unter Aspekten der Auslese leicht aus
dem Zentrum des Bemühens.
Wo auch immer heute Probleme im Feld Schule auftauchen, be-obachte ich einen bevorzugten Reflex: Testen!
Schülerinnen und Schüler sollen vor, während und nach ihrer Schulzeit immer minutiöser vermessen werden.
Selbst die begrüßungswerte ‘Initiative Bildungsvolksbegehren‘ fordert eine „klare Feststellung der Talente jedes einzelnen Kin-des“.
Als Repräsentant dieses Geistes verkündete der ehemalige Wis-senschaftsminister TÖCHTERLE in einem Interview mit der Zeitung FALTER: „Ich bin dafür, dass man frühzeitig bestehende
Bega-bungen und Stärken fördert. Wenn man das nicht tut, versäumt man wertvolle Zeit. Das beginnt schon im Kindergarten. Ich bin jedenfalls für eine Differenzierung nach Leistung und
Begabung.“
Mich würde interessieren, wie diese ‚Experten‘ sich vorstellen, so unwissenschaftliche, mythische Konstrukte wie ‚Talent‘ oder ‚Be-gabung‘ erheben zu können.
Um ein Merkmal „klar feststellen“ zu können, muss man diesem ja definierte, beobachtbare Handlungen zuordnen.
Warum müssen gerade Kinder und Jugendliche mit ihren optimal funktionstüchtigen und äußerst aufnahmebereiten Gehirnen ständig geprüft und bewertet werden?
Sicher nicht um des Lernens willen – vorausgesetzt die zugemute-ten Lernstoffe ergeben einigermaßen Sinn für die Betreffenden.
Ganz im Gegenteil!
Prüfungen lösen Wissen aus seinem Bezug zum Gegenstand. Wis-sen wird dann nur in seinem Bezug zu bestimmten Lehrpersonen oder zu den Noten erlebt. Die Gegenstände des Wissens werden irrelevant.
Lernen wird zum Hürdenlauf. Angeeignet wird dann bloß, was sich gut vorzeigen lässt, was kurzfristig leicht zu spei-chern und problemlos abrufbar ist. Vor allem kommt es nicht zu einer
kritischen Prüfung des Gegenstandes.
Das macht weder gescheit noch erwachsen sondern blöd und abhängig.
Gewievte Geister lernen unter diesem Regime möglicherweise schon etwas fürs Leben: „Unterschleif, Vortäuschung von Kennt-nissen, …, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeiche-lei,
Unterwürfigkeit, … usw. usw.“ wie Ziffel in BERT BRECHTs Flücht-lingsgespräche ausführt – vor allem auch Menschenkenntnis, um erfolgreich täuschen zu können. „… alles was nötig ist,
um im Le-ben vorwärts zu kommen“ fasst Ziffel zusammen.
Nicht zu verachten!
Schule sollte sich aus meiner Sicht allerdings weniger im Diagnos-tizieren von Gaben bzw. Defiziten ihrer Schüler und Schülerinnen üben. Ihre primäre Aufgabe wäre es, Fähigkeiten und
Leistungs-freude in jungen Menschen aufzubauen!
Kindern aus bildungsarmen Milieus fehlt es oft an Reizen und an Explorationsspielraum. Sie haben deshalb im Vorfeld mitunter kaum schulrelevante „Talente“ aufgebaut, die entdeckt und ge-fördert
werden könnten. Ihnen müssten erst einmal Probleme und Perspektiven ins Blickfeld gerückt werden, die den Aufbau bil-dungsrelevanter Fertigkeiten lohnen.
Die Idee, sich möglichst früh auf sogenannte Stärken von Kindern zu konzentrieren, nimmt die Einengung von Bildungswegen in Kauf. In einer dynamischen Welt, wo Wirtschaft nicht planbar ist, sind
es Biografien schon gar nicht. Deshalb kann nur die mög-lichst vielseitige Entwicklung aller Menschen als Bildungsziel gel-ten.
Die »glücklichen Seitensprünge des Lebens«, wie MICHEL DE MONTAIGNE sagen würde, die »glücklichen Seitensprünge des Lebens« bringen uns auf die Höhe unserer Möglichkeiten und machen uns
anschlussfähig an alle Eventualitäten – nicht zuletzt an die Erfordernisse der Demokratie.
Diese Aufgabenstellung für die Schule setzt sich allerdings nicht durch!
Warum?
Schule ist ein Brennpunkt gesellschaftlicher Widersprüche.
Sie hat zumindest zwei – einander widersprechende – gesell-schaftliche Aufträge.
Auf der einen Seite hat Schule Wissen und Kompetenz zu vermit-teln und in den Lehrplänen steht viel Gutes, Wahres und Schönes.
Andererseits ist der Schule historisch, mit der Durchsetzung demo-kratischer Verhältnisse, die Aufgabe zugewachsen, junge Men-schen in die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen
einzupas-sen.
Schule „fungiert als zentraler Verteilungsmechanismus von Le-benschancen“, hat HELMUT SCHELSKY schon 1957 konstatiert. Sie soll Schüler und Schülerinnen qualitativ recht unterschiedlichen
Lebenswegen zuführen und die entsprechend differierenden Le-benschancen auch rechtfertigen.
Das wird immer schwieriger.
Der Zugang zu Wissen ist heutzutage weithin offen und die Jun-gen wachsen den Alten in vielen Kompetenzen tendenziell über den Kopf.
Erstrebenswerte soziale Positionen bleiben allerdings weiterhin rar, sie werden sogar noch rarer. Erstmals in der zweiten Republik ha-ben wir es gesellschaftlich mit einer Abwärtsmobilität zu
tun. Men-schen in relevanter Zahl rutschen sozial ab.
Da bedarf es schon konsequenter Lernbehinderung eines Groß-teils der Jugend, damit Berechtigungen zu und der Ausschluss von Berufs- und Lebenskarrieren gerechtfertigt erscheinen.
Schließlich soll sozialer Friede aufrecht erhalten bleiben.
Die Beibehaltung vieler, für das Lernen bereits allseits als dysfunk-tional erkannter Rituale im Regelschulsystem findet in diesem Um-stand ihre Begründung.
International gesehen leistet das österreichische Schulsystem Vorbildliches im kulturellen Spiel von Distinktion und Prätention.
Hochselektiv in seinen Prozeduren des Sortierens ihrer Anbefohle-nen, führt es Kinder zuverlässig den auseinanderdriftenden sozia-len Lebenslagen zu.
In der Schule werden Differenzen erzeugt und kultiviert, die an so-ziale Unterschiede anschließen und diese wiederum stabilisieren.
So erweist sich im Übergang von der Volksschule zu weiterführen-den Schulen der sozioökonomische Status der Eltern als einzig sig-nifikanter Vorhersagefaktor für die weitere Schulwahl. Kinder mit
bildungsfernem familiären Hintergrund lesen nicht nur schlechter, sie erhalten bei gleicher Kompetenz in Deutsch die schlechteren Noten und treten bei gleichen Noten in Deutsch und Mathematik am
Ende der Volksschule seltener in eine AHS über.
In der Folge lässt unser selektives Schulsystem nicht nur schlecht performende Schüler und Schülerinnen im Stich, auch Spitzenleis-tungen bringt es nicht zuverlässig hervor. Es entmutigt
und de-motiviert.
Wissenschaftliche Neugier der Schülerinnen und Schüler sowie deren Überzeugung von der eigenen Kompetenz nehmen im Lauf der Schulzeit ab, Hilflosigkeitsgefühle mehren sich.
Die hartnäckigen politischen Kämpfe um die Schule zeigen, dass die verschieden Fraktionen der österreichischen Gesellschaft mit diesen ‚Erfolgen‘ unterschiedlich froh werden.
Die sozialen Klassen und selbst verschiedene Fraktionen der herr-schenden Klasse haben unterschiedliche Probleme zu lösen und stellen deshalb entsprechend widersprüchliche Forderungen an die
Schule.
Das System Wirtschaft zum Beispiel ist an möglichst vielen gut ausgebildeten Arbeitskräften interessiert, die sich vielseitig einset-zen lassen und darüber hinaus miteinander am
Arbeitsmarkt kon-kurrieren. Damit halten sie den Preis ihrer Arbeitskraft niedrig. Deshalb wünscht sich etwa die Industriellenvereinigung immer wieder die gemeinsame Schule der Zehn- bis
Vierzehnjährigen. Diese stellt möglichst wenig an Lernbehinderung in Aussicht und sie verspricht individuelle Förderung.
Die gemeinsame Schule würde Lehrende in eine radikal andere Situation versetzen als unsere herkömmliche Ausleseschule. Sie würden Schüler und Schülerinnen dann nicht mehr los, wenn die-se die
Bildungsziele nicht erreichten. Es gäbe keine Auffanglager mehr für Minderleister und Sitzenbleiben ist konzeptuell nicht vor-gesehen. Schulversagen würde auf die Lehrenden zurückfallen. Das
verstärkt deren Motivation maßgeblich, sich um das Fort-kommen aller Schülerinnen und Schüler zu bemühen. Das hat sich international vielfach gezeigt.
Das Bildungsbürgertum als nächster Stakeholder, hat seine ei-genen Sorgen. Es möchte sich in erster Linie konkurrenzentlastet selbst reproduzieren und fürchtet eine Inflation seiner
Bildungsti-tel. Deshalb plädiert das Bildungsbürgertum für die Pflege bzw. Verschärfung von Bildungsbarrieren. Diese Fraktion der herr-schenden Klasse besteht auf frühe Separierung der Kinder in
Hauptschulen und darin womöglich noch in ‚Leistungsgruppen‘, und in Gymnasien.
Die frühe Sortierung macht bereits die Volksschule zum Selekti-onsorgan – auf die härteste und irrationalste Art.
Die Gymnasiumunterstufe ist, besonders in den Städten, der Schultyp mit den schlechtesten Lernbedingungen. In sie wird 20% weniger Geld investiert als in Haupt- und Neue Mittelschulen. In den
Klassen sitzen da auch durchschnittlich 25% mehr Schülerin-nen und Schüler.
Einer weitgehend heterogenen Schüler_innenschar stehen Leh-rende gegenüber, die auf einen Unterricht für ausgelesene, hochmotivierte Schülerinnen und Schüler ausgerichtet sind. Hier ist
individuelle Förderung nicht vorgesehen. Es gibt auch kaum pädagogisches oder psychologisches Unterstützungspersonal.
Da wird also ausgelesen – nach fragwürdigen Kriterien.
Hauptschulen und Neue Mittelschulen sind strukturell besser ge-rüstet. Es gibt mehr pädagogische und psychologische Unterstüt-zung und die Lehrenden sind da auch auf individuelle Förderung
eingestellt.
Das hilft indes wenig, wo nur die Schwächsten unter sich sind o-der tatsächlich nur mehr Kinder, deren Alltagssprache anders als Deutsch ist.
Kinder lernen ja maßgeblich voneinander. Das bereichert sie al-lerdings nur, wenn sie unterschiedliche Stärken einbringen. Wenn darüber hinaus zumindest einige die Unterrichtssprache gut
be-herrschen und sie einander gut verstehen können.
Die Misere an Hauptschulen wie auch an Gymnasien wehrt also einen Ansturm hoffnungsvoller Gipfelstürmer von ‚unten‘ erfolg-reich ab. Die euphemistisch „Eliten“ Genannten bleiben also un-ter
sich.
Ihre Kinder besuchen oft private Schulen. Denen bleiben da viele Lernbehinderungen des Regelschulsystems erspart. Hier werden Zeit, Freiheit und vor allem Mittel zur Verfügung gestellt, um
pä-dagogischen Ansprüchen nachzukommen.
Über lernförderliche Rahmenbedingen bestehen ja weder Zweifel noch Uneinigkeit. Die Geister scheiden sich nur in der Frage, wel-chen Kindern ein begeisternder Rahmen zukommen soll.
Ex-Wissenschaftsminister TÖCHTERLE z. B. kennt „Tischler, Schmie-de, Installateure und Automechaniker, …, die brauchen für ihr glückliches Leben nicht unbedingt Matura.“ –
Originalton!
Für selbstdefinierte ‚Elite’institute werden übrigens nicht unbe-dingt Hochleister ausgelesen. JULIA FRIEDRICHS beschreibt in ih-rem spannenden Buch „Gestatten: Elite.“, wie da Minderleister und
andere Problemfälle gegen viel Geld so lange für die Auf-nahmeverfahren getrimmt werden, bis sie diese bestehen. Später schaffen dann unter den exzellenten Lernbedingungen fast alle einen
Abschluss. Für das berufliche Weiterkommen sorgen in der Folge sowieso die Absolventennetzwerke und nicht die schuli-schen Leistungen.
Das politische System hat als dritter Stakeholder ebenfalls spezi-elle Forderungen an die Schule. Es möchte – unter anderem – so-zialen Frieden gewährleistet sehen.
Je nach Blickwinkel und Weitsicht scheiden sich da die einzelnen Fraktionen. Die einen sehen in einer Gettoisierung und Verelen-dung von Haupt- und Sonderschüler_innen die größere Gefahr. Die
anderen fürchten eine zu große Zahl gut qualifizierter Ju-gendlicher, die mit den ihnen letztlich zugestandenen Positionen unzufrieden sein könnten.
Entsprechend treten die einen für die integrative gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen ein, die anderen warnen vor zu viel Gleichheit und plädieren für die weitere Apartheid un-ter
den Lernenden.
Und wo bleiben die betroffenen Kinder?
Sie können diese Frage nicht früh genug aufwerfen.
Auch nicht deren Eltern und alle anderen Bürgerinnen und Bür-ger.
Was sollten Kinder auf ihrem Weg in die Gesellschaft bewerkstelli-gen?
Ihnen sollte der Aufbruch aus der familiären Abhängigkeit in die weite Welt gelingen, der Sprung aus der – prototypisch – stabilen, konservativen Familienstruktur in die dynamische, expansive
öf-fentliche Kultur. Jugendliche sollten da als kompetente Akteure ankommen.
Dazu brauchen sie Verfügungswissen und Orientierungswissen.
Verfügungswissen ist Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel. Wissenschaft und Technik liefern diese Art Wissen – unter vorge-gebenen Zwecken. Es gewährleistet, dass Dinge richtig getan werden
können. Verfügungswissen ist heutzutage leicht zugäng-lich, auch jenseits der Schule.
Orientierungswissen ist Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Zie-le und verhilft dazu, die richtigen Dinge zu tun. Orientierungswis-sen ist nicht so leicht zu erwerben. Es hat Selbstdenken,
Einsicht in soziale Zusammenhänge, ethische Reflexion und Eigensinn zur Vo-raussetzung.
Wir leben in einer »heißen Kultur«. CLAUDE LÉVI-STRAUSS unter-scheidet heiße Kulturen von kalten Kulturen.
Für heiße Kulturen ist sozialer Wandel bestimmend, während kalte Kulturen jede Veränderung ihrer Strukturen zu verhindern su-chen. In traditionellen – kalten – Kulturen werden kindliche
Mus-ter der Abhängigkeit von der Familie auf den Clan übertragen.
Das erfolgt durch den Initiationsritus – eine Zeit der Qualen und der Belehrung. Die Abhängigkeit von der Gruppe wird auf-rechterhalten durch Magie, Verbote und Tabus.
Individuierung findet nicht statt.
In Industriegesellschaften macht die rasche Entwicklung der Pro-duktivkräfte gesellschaftliche Umbrüche notwendig. Als Träger gesellschaftlichen Fortschritts setzten heiße Kulturen auf die
Ju-gend.
Dazu sollten Jugendliche die Welt und sich selbst verstehen ler-nen. Spielregeln durchschauen und sich als kompetente Spieler erleben, sich selbst wichtig genug nehmen, um sich in die eige-nen
Angelegenheiten einzumischen, auch in die öffentlichen. Das wären Resultate eines gelungenen Bildungsprozesses.
Schule könnte nun ein Ort sein, an dem Jugendliche ihre Neugier befriedigen, an dem sie gegebene Formen der Realität kritisch prüfen und ihre Kreativität experimentell erproben können – ein Ort,
an dem sie familiale Muster fragloser Übernahme von Welt-sichten und Regeln korrigieren und neue Formen aktiver Anpas-sung an gesellschaftliche Notwendigkeiten entwickeln.
Damit würde Schule auch die Chance zur steten Kulturerneue-rung realisieren helfen.
Stattdessen werden in unserem Regelschulsystem über weite Strecken Fixierungen auf kindliche Muster geschaffen.
Mittels der praktizierten Rituale werden die Bindungen an die Familie nicht aufgehoben, sondern auf die Schule übertragen. Dem jugendlichen kreativen Aufbruch wird mit Imperativen be-gegnet, dem
Experimentieren werden starre Verfahren entge-gengesetzt und die moralische Sensibilität der Jugendlichen wird durch Normativität unterlaufen.
ARNOLD GEHLEN erkannte die Funktion von Institutionen, Ent-wicklung einzufrieren. Er betonte, dass sich die Invarianz der Ideen und die der Institutionen gegenseitig bedingen.
ARNOLD GEHLEN, der dem Menschen ob seiner Instinktentbun-denheit misstraute, hat sehr klar und durchaus affirmativ be-schrieben, wie mithilfe von Riten der Kampf gegen Wandel und Geschichte
erfolgreich geführt werden kann. Er hat darauf hin-gewiesen, dass der Ritus beim Menschen den Instinkt ersetzt, in-dem er analytisches Denken hemmt. Was im Lichte des Sollens erscheint,
wird dem rationalen, experimentellen Problemhandeln entzogen.
Starre zeitliche Vorgaben, unplausible Abgrenzung einzelner ‚Gegenstände‘ voneinander, rigide Handlungsmuster, Prüfun-gen, Noten, Strafen, Einschluss, Ausschluss, all diese Rituale sind im Sinne
von Lernprozessen rational nicht einzusehen.
Angst behindert eine variable, eigensinnige Verarbeitung des Gelernten und später dessen emanzipatorischen Einsatz.
PISA hat die Entfremdung von den Lerngegenständen noch vo-rangetrieben. Bisher standen Noten im Zentrum des Interesses. Noten lassen sich im Rahmen einer Klasse noch einigermaßen sinnvoll
interpretieren. Jetzt geht es um Rangplätze im Rahmen einer suggerierten internationalen Konkurrenz. Jeglicher greifbare Sinnzusammenhang schwindet im Ringen um einen Platz auf ei-ner anonymen
Rangliste. Schüler_innen werden für PISA trainiert und alle sind aufgeregt – das ideale Initiationsklima, das jedes ei-gensinnige, kreative Denken zum Stoppen bringt.
Auch unter den Lehrenden hat PISA einen Irrationalitätsschub ausgelöst und die Bereitschaft herabgesetzt, pädagogische Dis-kurse anstelle von standespolitischen zu führen.
Die Irrationalität und zugleich tiefe Bedrohlichkeit von Prüfungen wird deutlich in Prüfungsträumen, wie man sie oft noch als er-wachsene Person hat. Die tiefe Erschütterung, die Ohnmacht und
Bodenlosigkeit im Prüfungstraum lassen uns erahnen, warum rund um Zeugnisverteilungen Krisenzentren Hochbetrieb haben und doch Schülerselbstmorde und Amokläufe nicht verhindern können.
In diesem Lichte ist der breite Widerstand gegen die Abschaffung oder die Einschränkung der Notengebung bezeichnend.
Unsere Schule ist eine kalte Kultur. Wissen wird durch Leiden ver-mittelt, ganz in der Tradition von Initiationsriten.
Schule fungiert über weite Strecken als Kühlsystem für ‚drohende‘ gesellschaftliche Dynamik und bremst die Autonomieentwick-lung.
Was sind schließlich die Interessen von Lehrerinnen und Lehrern?
In Österreich erscheinen Sie mitunter als eigener Stamm mit Son-derinteressen.
Das trifft allerdings nicht zu.
Meine Forschungen haben gezeigt, dass Lehrende mehr oder weniger bewusst unter dem Widerspruch von geforderter gesell-schaftlicher Allokation ihrer Schülerinnen und Schüler auf der ei-nen Seite
und pädagogischer Verantwortung andererseits leiden.
Meine Befunde signalisierten immer wieder, dass sich Lehrerinnen und Lehrer sehr unterschiedlich zu diesem Widerspruch verhalten. Sie konzentrieren ihre Bemühungen entweder mehr auf dessen eine
oder mehr auf die andere Seite.
Viele entscheiden sich für pädagogische Verantwortung und damit für individuelle Förderung mit dem Ziel, alle ihnen Anver-trauten zum Erfolg zu führen.
Die Entscheidung für pädagogische Verantwortung können Leh-rende individuell treffen – unabhängig von Schule, Schultyp und Schulorganisation. Aus meiner Sicht verfügen sie über einen er-heblichen
Ermessensspielraum, was die Gestaltung des Schulall-tags anlangt.
In einer gemeinsamen Schule würde diese Entscheidung aller-dings wesentlich näher liegen, leichter fallen und sie wäre auch effektiver.
Viele Lehrerinnen und Lehrer sehen sich allerdings oft kaum in der Lage rationale Entscheidungen zu treffen.
Was hindert sie?
Ich möchte in der Folge auf organisationsdynamische Faktoren eingehen, die rationales Verhalten in der Schule torpetieren.
Schule ist ein starres, hierarchisches System mit vielfältigen Ab-hängigkeitsverhältnissen. Das befördert die Regressionsbereit-schaft aller Beteiligten, nicht nur die der
Schülerinnen und Schü-ler, sondern auch die des Lehrpersonals, der Schulleiter_innen und der staatlichen Aufsichtsorgane.
Regression bedeutet Rückfall auf bereits überwundene, unreife Formen des Fühlens, Denkens und Handelns.
Aus der Allokationsfunktion der Schule kommt der Anspruch nach entemotionalisierter, ritualisierter Vermittlung von Wissen – auf dass alles ‚objektiv‘ vor sich gehe und
Leistungsunterschiede als Effekte phantasmatischer ‚Begabungsunterschiede’ darge-stellt werden können.
Selbstverständlich funktioniert das nicht. Ohne Emotion gibt es keine Motion, keine Bewegung. Ohne Emotionen gibt es kein Mo-tiv, keinen Beweggrund. Rationalität und Sachlichkeit jenseits
persönlicher Interessen sind Schimären.
Ebenso stellen ‚Gleichbehandlung‘, ‚Objektivität‘ und ‚gerechte Noten‘ in der Schule Mythen dar, die der Legitimation der Schule als Selektionsinstanz dienen.
Diese Erkenntnis ist für die Schule eine Ungeheuerlichkeit und muss ebenso unbewusst gehalten werden wie persönliche Motive und Bedürfnisse der Protagonist_innen.
Im Endeffekt herrschen in der Schule – hinter vordergründigen Sachzwängen – indirekte, chaotische Emotionalität und Normati-vität. Zu beobachten sind emotional sehr bedürftige Menschen und mehr
oder weniger irrationales Verhalten aller Beteiligten.
Schülerinnen und Schüler finden den angekündigten »Ernst des Lebens« in der Schule nicht so recht vor.
Das stark von unbewussten Motiven geleitete Geschehen in der Schule erscheint ihnen willkürlich und unfair. Oft verlieren sie den Mut, entwickeln Widerständigkeit, verweigern Interesse und
Leis-tung.
Den Lehrenden geht, eingezwickt in Dilemmata von pädagogi-schem Auftrag, gesellschaftlicher Allokationsfunktion und persön-lichen Strebungen ebenfalls oft der Mut und die Luft
aus.
Auch Eltern finden sich in einem Dilemma vor. Einerseits möch-ten sie die Interessen ihrer Kinder vertreten – das brächte sie häu-fig in Konfrontation zur Schule. Andererseits wird
die Schule als übermächtig erlebt – nicht zuletzt aufgrund wiederbelebter eige-ner kindlicher Abhängigkeits- und Ohnmachtsgefühle. So krümmt sich ihnen der Rücken, sobald sie den Geruch des
Schul-hauses wahrnehmen. Oder sie verfallen in unreifes Aufbegehren.
Heillos in ihren Möglichkeiten überschätzt stellt Schule ein be-drohtes System dar. Sie kann den vielen widersprüchlichen Forde-rungen nicht gerecht werden und gerät zunehmend unter
Be-schuss.
Dazu kommt, dass fast alle Menschen offene Rechnungen mit der Schule zu begleichen haben. Ressentiments gegen die Schule werden öffentlich und privat recht ungeschminkt ausgelebt.
Auch der Dienstgeber, der Staat, scheint wenig Respekt für die Arbeit in den Schulen aufzubringen, sonst würde er für bessere Bedingungen des Unterrichtens sorgen.
All das weckt jede Menge regressiver Emotionen in den Lehren-den – Hilflosigkeit, Angst, aber auch Omnipotenzgefühle ange-sichts der hohen Erwartungen an sie.
Fatalerweise reagieren Menschen, die sich und ihr ihr System ge-fährdet erleben, nicht mit erhöhter Bereitschaft, sich mit Alterna-tiven oder Entwicklungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Ganz
im Gegenteil, mit der Angst greifen loyale Denkhemmun-gen, Realitätsverleugnung und illusionäre Verkennungen Platz. Vor allem werden auch jene Affekte verdrängt, die Aufbegehren und Widerstand
motivieren müssten.
Selbstverständlich gibt es gute Gründe, Emotionen in der Schu-le zu kontrollieren.
Aufseiten der Schülerinnen und Schüler sind dies vor allem Ag-gressionen gegen Lehrende und gegen die gesamte Institution.
Bei den Lehrerinnen und Lehrern sind es libidinöse Affekte ge-genüber ihren Anbefohlenen aber auch Aggression. Aggression auch gegen Eltern und vor allem gegen übergeordnete Instan-zen in
der Schulhierarchie.
Schließlich sollten regressive Gefühle allerseits abgewehrt werden – Mutlosigkeit, Abhängigkeit, Scham und Angst.
Emotionen lassen sich allerdings nur kontrollieren, wenn sie be-wusst werden. Dann kann man sie aufklären – man kann sie iden-tifizieren, reflektieren und modifizieren. Zugrundeliegende An-nahmen
– Erwartungen, Hypothesen, Überzeugungen – lassen sich aufspüren und deren implizite Empfehlungen überprüfen.
Die Akteure sind dann ihren Gefühlen nicht ausgeliefert, sie kön-nen vor allem impulsive Handlungen unterbinden.
Wo Gefühle aber tabuisiert sind, kommen sie nicht zu Bewusstsein. Sie bleiben dann dennoch verhaltensrelevant und entfalten ihre Kraft über die Köpfe hinweg.
In der Schule sind Gefühle und persönliche Ansprüche in aller Regel tabuisiert und werden durch Ritualisierung in Zaum gehal-ten, verschleiert und verschoben.
Initiation ist die Antwort der Alten auf die Provokationen der Jun-gen.
Spontanes und triebhaftes Verhalten provoziert die Triebabwehr Erwachsener.
Jugendliche stellen unter dem Eindruck ihrer drängenden Sexua-lität sowie ihrer Größenphantasien die gegebenen Formen der Realität in Frage. Sie bringen damit die Erwachsenen in Verle-genheit.
Diese haben in aller Regel die eigenen Ansprüche auf Grandiosität untergehen lassen und ihre libidinösen Strebungen domestiziert. Viele befinden sich bereits in einer resignativen
Le-bensphase.
Anarchisch agierende Kinder und Jugendliche wecken nun mühsam niedergekämpfte Wünsche und entsprechende Gewis-senskonflikte in Erwachsenen. Und sie erregen Ärger über womög-lich unnötig vergebene
Freiheiten.
Je stärker Erwachsene ihre innere Abwehr gegen die eigenen thymòtischen Kräfte gefährdet erleben, je weniger sie selbst im-stande waren, ihren Größenphantasien im Leben Geltung zu ver-schaffen,
desto unerbittlicher müssen sie diese in den Jugendli-chen bekämpfen.
Persönliche Enttäuschungen können aber auch zu einer Verklä-rung der Kindheit führen. Die Beschäftigung mit Kindern kann die Möglichkeit eines neuen Anfangs verheißen.
MARIO ERDHEIM beschreibt drei Phantasmen über die Jugend, die das Verhalten Erwachsener in Konfrontation mit jugendlicher thymòtischer Dynamik leiten.
Jugendliche können als »Zerstörer« erscheinen, als »Opfer« oder als »Heilsgestalten«.
In jedem Fall ist die Begegnung durch die Bedürfnisse der Erwach-senen geprägt, nicht durch Interessen der Jugendlichen oder ge-tragen von einer vernünftigen Sorge um die Zukunft der
Gesell-schaft.
Unter dem Eindruck eigener Sehnsüchte, mit großer Angst und ausgestattet mit viel Macht nähern sich Lehrkräfte also den an-vertrauten Kindern und Jugendlichen.
Ihre Unsicherheit kriegen sie oft nur durch unempathisches Machtgehabe in den Griff.
Selbst Macht hat regressiven Charakter in der Schule. Hier kön-nen Lehrende auf die Weise ‚erwachsen‘ sein, wie sie sich als Kind das Erwachsensein vorgestellt haben. Sie sitzen vorne und die
Schülerinnen und Schüler müssen ihnen folgen, in einer unaufge-klärten, nicht legitimationspflichtigen Herrschaftsbeziehung.
Viele Lehrerinnen und Lehrer neigen aber auch zu liebevollen persönlichen Bindungen zu ihren Schülerinnen und Schülern. Sie ‚bemuttern‘ sie oder ‚verbrüdern‘ sich mit ihnen.
Das birgt allerdings die Gefahr der Wiederbelebung familialer Muster des Fühlens, Denkens und Handelns – auf beiden Seiten.
Kinder werden dann geneigt, die seltsamsten Anpassungen vor-zunehmen, wenn sie nur in vertrauter Weise emotionell ange-sprochen werden. Sie lernen dann ‚für das Leben‘, Konflikte wie in der
Familie durch Liebe zu vermeiden oder Widersprüche durch Identifikation mit dem Aggressor zu lösen. Bildungsziele wie Selbstdenken, Eigensinn und autonome Moral bleiben dann auf der
Strecke.
Alle Beteiligten im Schulgeschehen sind getrieben von Wün-schen, Ängsten und Aggressionen, die sie sich und anderen nicht eingestehen dürfen. Alle sind damit beschäftigt, ihr inneres
Gleichgewicht auszubalancieren. Alle haben gute Gründe, sich Geschichten zu erzählen, die ihnen Erleichterung verschaffen. Angstbewältigungsstrategien und Anpassungsmechanismen schwächen den
Realitätssinn ebenso wie den Möglichkeitssinn.
Im Allgemeinen wird das Maß möglicher Realitätsverkennung gesteuert durch Feedback, das Menschen aus ihrer Praxis erhal-ten.
Sie kooperieren mit anderen Menschen. Ihre subjektiv konstruier-ten Bilder von der Welt treffen auf alternative Vorstellungen, an denen sie die ihren prüfen können.
Sie arbeiten an einem Material, das ihnen Rückmeldung gibt über die Passung ihrer Vorstellungen, indem es sich widersetzt oder bearbeiten lässt.
Schließlich können sich ihre Produkte als tauglich erweisen oder scheitern.
Diese Möglichkeiten der Korrektur eröffnen sich in der Schule nur spärlich.
Die alltägliche Lebenspraxis befindet sich außerhalb der Schule. Kooperieren müssen Lehrrerinnen und Lehrer nur wenig. Das Ma-terial, an dem sie arbeiten, ist äußerst plastisch. Ihr Produkt –
Bil-dung – kann nur mittelbar und zeitverzögert an einer schwer zu bestimmenden Realität scheitern. Daraus ist wenig Feedback zu gewinnen.
Auch reversible Kommunikation findet in der Schule kaum statt, zumindest nicht im Unterricht. Lehrerinnen und Lehrer fragen grundsätzlich nach Dingen, die sie schon wissen und bewerten die
Antworten. Äußerungen von Schülerinnen oder Schülern ste-hen nicht ernstlich als Möglichkeit zur Korrektur für Fehleinschät-zungen seitens der Lehrkräfte zur Debatte.
Für Kommunikation und gegenseitige Supervision im Lehrkörper besteht im traditionellen Schulbetrieb kaum Raum.
Von Schulleiter_innen ist auch wenig konstruktive Kritik zu erwar-ten. Schulen entwickeln sich zu immer unübersichtlicheren Einhei-ten, Direktor_innen fällt es so schwer, pädagogisch Aufsicht zu
üben. Für offizielle Kontrollorgane werden meist gut geprobte In-szenierungen aufgeführt.
Eltern schließlich, sind aufgrund ihrer interessensgebundenen und emotionalen Befangenheit zu einer rationalen Auseinanderset-zung in Schulbelangen meist auch nicht in der Lage.
Was könnte die Rationalität schulischen Agierens heben?
Lernen funktioniert am besten innerhalb aufgeklärter Beziehun-gen.
Schule sollte sich als Institution der Öffentlichkeit deutlich von der Institution Familie abgrenzen und ein Lern- und Beispielfeld für Öf-fentlichkeit, für das Leben in Sekundärgruppen und in
Organisa-tionen abgeben.
Interaktionsformen sollten die realen sozialen Beziehungen in der Schule nicht verschleiern.
Dazu gehört etwa, dass sich Lehrende in ihrer gesellschaftlichen Funktion der Selektion zu erkennen geben. In dieser sind sie weder Freunde der Schülerinnen und Schüler noch solche der
Eltern.
Innerhalb transparenter Verhältnisse können sich alle Protago-nist_innen den Widersprüchen im System bewusst stellen.
Noten etwa können anders abgehandelt werden, wenn Noten-gebung als eine partikularinteressensgeleitete Konvention einge-sehen wird, anstatt als Kennzeichnung von Begabung oder
An-strengungsbereitschaft missverstanden zu werden.
Nur die gemeinsame reflexive Distanz zu unwillkommenen Zwän-gen kann deren destruktive Effekte einigermaßen abfedern.
Aufklärung hilft!
Lehrerinnen und Lehrer könnten mit größerer Sicherheit und mit weniger Reibungsverlust als Entwicklungshelfer_innen fungieren, würden sie auch die eigenen Bedürfnisse, ihre Erwartungen und ihre
Ansprüche aufklären.
Rollenkonflikte, die daraus resultieren, sollten sie sich bewusst ma-chen und ihre Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume realis-tisch ausloten.
Die Analyse der Arbeitsbedingungen und der eigenen Ressour-cen kann dem drohenden Realitätsverlust gegensteuern.
Das Gefühl chronischer Hilflosigkeit verschwindet dann vielleicht und gibt den Weg frei für einen realistischen, ökonomischen Kräf-teeinsatz.
Klarheit und bewusste Stellungnahme im Konfliktfall bieten eine tragfähige Grundlage für eine Praxis, die von den persönlichen Ansprüchen ausgeht, von den eigenen Fähigkeiten getragen ist, und
deshalb in hohem Maße befriedigend und erfolgreich sein kann.
Klärungsprozesse in diese Richtung können in verschiedenen Zu-sammenhängen stattfinden. Durch literarische Auseinanderset-zung, in Diskussionsrunden, in Arbeitsbesprechungen, Konferen-zen,
in Supervisionssettings, in Selbsterfahrungsgruppen und im Rahmen politischer Kämpfe kann innere wie äußere Realität auf-gehellt und angeeignet werden.
Besonders lohnenswert fände ich es, wenn Lehrer_innen mit ihren Schüler_innen in gemeinsame Lernprozesse einträten.
Sie könnten z.B. die in der Schule auftretenden Widersprüche zu Lerngegenständen machen und diese als Widerspiegelung ge-sellschaftlicher Verhältnisse erörtern. So gewännen sie Zugang zu
umfassenderen Themen ökonomischer, soziologischer und polito-logischer Natur, welche die Interessen der Schülerinnen und Schüler träfen.
Persönlicher Sinn ist die beste Motivationsgrundlage für Lernpro-zesse.
Es gibt viele wichtige Fragen, auf die Lehrerinnen und Lehrer kei-ne Antwort haben. Sie könnten sie aufwerfen!
Persönliche Involviertheit und ein entsprechendes Engagement in ausnahmsweise einmal auch für Lehrer_innen noch offenen Fra-gen, könnten Leben und augenfälligen Sinn in den Unterricht bringen.
Zusammen gewonnene Einsicht von Lehrer_innen und Schüler_innen in ihre Lebenszusammenhänge könnte zu einer gemeinsamen Orientierung führen, würde Misstrauen auf beiden Seiten abbauen. Die
negative Spirale von Disziplinierung, Kontrol-le und Widerständigkeit würde durchkreuzt.
Damit wäre eine Grundlage geschaffen für weitere welterschlie-ßende, emanzipatorische Lernprozesse.
Eine gemeinsame Praxis, deren „Produkte“ sich für Schüler_innen wie für Lehrer_innen als tauglich oder untauglich erweisen kön-nen, weil an realen Problemen gearbeitet wird, so eine Praxis würde
auch die Bilder über die Realität, die im Unterricht entste-hen, auf ihre Angemessenheit hin überprüfbar machen.
Aufklärung ist eine alte Losung, aber weitgehend ungehört und deshalb stets aktuell. Mehr Klarheit könnte auch in der Schule Si-cherheit und Lebensqualität steigern – auf allen Seiten.
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