Damit es alle wissen: Ich bin seit der Vollendung meines 17. Lebensjahres, also seit 27.9.1984, das ist ziemlich genau seit 35,5 Jahren, ein vehementer Befürworter der Abschaffung der
Matura und der Durchrechnung der Oberstufen-Noten.
Seit der Einführung der „Zentralmatura“ bin ich mehr als je zuvor ein Gegner dieser abschließenden Prüfung. Das Lesen meiner
Argumentation dauert ein bisschen, da müssen vor allem jene durch, die mich kritisieren wollen. Aber genau das will ich ja andererseits, also: Nur zu!

 

Warum bin ich gegen die „Matura“, eigentlich in Österreich richtiger „Reifeprüfung“ (an AHS) oder „Reife- und Diplomprüfung“ (an BHS) genannt? (Der
Einfachheit halber und weil ich annehme, dass dieser umgangssprachliche Ausdruck beide – in meinen Augen eher komplizierten – Beamtentermini gut ausfüllt, werde ich ihn dennoch verwenden.)

 

Da wäre zunächst einmal zu erwähnen, dass die Matura – insbesondere, seit sie als „Zentralmatura“ durchgeführt wird, also in den AHS seit dem Haupttermin 2015, in den BHS seit 2016 – eine streng
termingebundene Prüfung ist. Sollte in kleinem oder großem Rahmen etwas passieren, ist das für die betreffenden Schüler*innen oder/und die Schulverwaltung eine
Katastrophe.

 

Nehmen wir ein Beispiel für den kleinen Rahmen: Ein*e Schüler*in wird zum Termin der schriftlichen Matura krank, z.B. leidet sie*er an einer Sommergrippe. Es
reicht aber auch ein schwerer Migräneanfall an einem derjenigen Tage, an dem eine schriftliche Klausur stattfinden würde. Was ist hier die Folge? Diejenigen schriftlichen Termine, die versäumt
wurden, müssen im Herbst, also im ersten Nebentermin, nachgeholt werden.

 

Das passiert doch nicht oft, werden jetzt viele sagen.

 

In der Tat – passiert selten. Aber doch! Letztes Jahr hatten wir an meiner Schule einen (guten) Schüler, der die schriftliche Matura wegen schwerer Erkrankung verpasste – daher Herbsttermin. Na
super! Dieser Sommer war für den betreffenden Schüler ordentlich vermasselt!

 

Nehmen wir einen größeren Rahmen: Im Sommer kommt es in jener Gegend, wo ich wohne und unterrichte, durchaus hin und wieder zu heftigen Gewittern. Alle
Schüler*innen schreiben. Nach zwei, drei Stunden Blitzschlag, Stromausfall – ja, wir leben im Jahr 2020, die allermeisten Matura-Arbeiten werden am Rechner erledigt! Da wir am Alpenrand
lokalisiert sind und der Fehler nicht schnell behebbar ist, sind wir nach 16 Uhr noch immer ohne Strom. Das heißt konkret: Alle Schüler*innen meines Schulstandorts, also jene aus BHS und AHS,
müssen im Herbst zu dieser „ausgefallenen“ schriftlichen Prüfung antreten. Toll, oder?

 

Nehmen wir einen noch größeren Rahmen: Angenommen, es geschieht ein Reaktorunfall im AKW bei Landshut oder bei Temelín – die SRDP in OÖ, NÖ, Wien, Salzburg,
eventuell auch im nördlichen Burgenland und in der Obersteiermark müsste wohl entfallen. Die genaueren Ausfallstermine bestimmt dann die jeweilige Wetterlage. Es könnte also im ungünstigeren Fall
auch Tirol und Vorarlberg treffen. Sollte das Kernkraftwerk bei Krško einen schweren Unfall melden, wären wiederum eher die südlichen Bundesländer Österreichs vom Matura-Ausfall betroffen. Ob in
den beschriebenen Gegenden dann im Herbst eine Matura stattfinden könnte, wage ich allerdings zu bezweifeln, da geht es dann eher generell um die Frage, ob und wenn ja wie dort wieder Menschen
leben werden.

 

Nehmen wir den allergrößten Rahmen: Wir erleben die Problematik gerade jetzt, bei der Covid-19-Pandemie! Aus Angst vor Ansteckung werden
Ausgangseinschränkungen erlassen, Schulen gesperrt, das öffentliche Leben und die Wirtschaft liegen darnieder. Interessantes Detail: Länder mit großer
Zentralmatura-Tradition wie Frankreich haben rechtzeitig diese Prüfung abgesagt, weil dort offenbar bekannt ist, welche Unabwägbarkeiten aus einem sturen Beharren auf der Abhaltung einer
zentralisierten Prüfung in solchen Ausnahmesituationen entstehen können.

 

Kommen wir nun zum Thema „Matura als Initiationsprüfung und Lebensabschnittsabschluss“, denn diese als „Argument“ bezeichnete Überschrift (ich will diese fünf
Wörter einmal so nennen) wird oft von Matura-Befürworter*innen ins Treffen gebracht.

 

Da kann ich nur sagen: Es mag durchaus sein, dass die Matura früher einmal, vielleicht auch noch – gerade noch – zu jener Zeit, als ich sie ablegte (Juni 1986), die Eintrittskarte in die Welt der
universitären Bildung war. Diesen Nimbus hat sie aber – meiner Meinung nach durchaus zu Recht – seither eindeutig verloren.

 

War es zu meiner Zeit, also im zu Ende gehenden zweiten Jahrtausend, nach dem soeben überwundenen Höhepunkt des kalten Krieges, durchaus noch gut, seine Matura in der Tasche zu haben, um
„irgendwas“ zu studieren (ausgenommen vielleicht künstlerische Fächer oder Sport, da gab’s schon traditionell Aufnahmeprüfungen), so ist das heute ziemlich nutzlos.

 

Gerade Studienrichtungen – und derer gibt es jetzt natürlich hunderte, wenn nicht tausende mehr als 1986 – Studienrichtungen also, wo wirklich gute, fundierte Vorkenntnisse und auch
Geschicklichkeit und/oder Empathie notwendig sind, veranstalten großangelegte Aufnahmeprüfungen. Zu Recht, würde ich sagen! Das liegt meiner Meinung nach vor allem daran, dass auch und gerade
durch die Digitalisierung und den rasanten technischen Fortschritt sich die Menge der Kenntnisse dramatisch vervielfacht hat. Das alles in einen halbwegs vernünftigen und für Schüler*innen
erträglichen Lehrplan zu zwängen, ist selbst den fachlich, didaktisch und pädagogisch ambitioniertesten und geschicktesten Lehrplan-Ersteller*innen nie und nimmer möglich!

 

Wozu also eine Matura, die viel Geld kostet, viel Organisationsaufwand bedeutet und viel Nerven aufreibt, immer noch veranstalten? Wofür genau soll die Matura ein
Initiationsritus sein? Das frage ich mich allen Ernstes.

 

Bezüglich „Abschluss eines Lebensabschnitts“ möchte ich sagen, dass für mich persönlich das „Lernen“ im engeren Sinn mit der Matura nicht aufhörte, es fing auch
nicht erst richtig an,
vielmehr war für mich ab der 6. Klasse Gymnasium klar, dass ich dem Vorgetragenen mit Interesse folgte bzw. das Aufgetragene bestmöglich zu erledigen versuchte –
denn ich wollte es ja für mich gescheit machen, nicht für meine Eltern oder die Lehrerin*den Lehrer. Davon bin ich auch an der Universität Salzburg, wo ich Romanistik und Germanistik studierte,
nicht abgewichen, und diese Haltung war durchaus erfolgreich, möchte ich anmerken. Nur eine „Abschlussprüfung“ hatte ich im September der 6. Klasse AHS, also zu jenem Zeitpunkt, von dem an ich
mich so verhielt, natürlich nicht. Vielleicht war ich in der glücklichen Lage, durch meine Familie, die Schule und die Lehrer*innen positiv beeinflusst zu sein, aber ich traue den meisten
österreichischen Jugendlichen und daher auch den meisten meiner Schüler*innen durchaus zu, diese Entscheidung, die ich damals getroffen habe, auch für sich heute genauso oder ähnlich zu treffen.

 

Warum sollte ich jemandem, der eine Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen erledigt, noch eine Prüfung auferlegen, die für sie*ihn unnötig Stress erzeugt, wo noch
dazu genug verpflichtende und freiwillige Ausdrücke ihrer*seiner Leistungswilligkeit vorliegen?
Und warum sollte für diese Person dann das Lernen zu Ende sein? Auch das frage ich mich
allen Ernstes! Wir alle wissen doch, dass „lebenslanges Lernen“ nicht nur sinnvoll, sondern lebensnotwendig ist!

 

Ganz abgesehen davon ist die „Matura“ als Abschluss der höheren Schulen in Österreich, also von AHS oder BHS, eine unfaire Prüfung, weil eben das
Bildungssystem unfair ist, denn es ist ausgerichtet auf eine*n Schüler*in aus dem „Mittelstand“, mit bildungsaffinem Elternhaus, idealerweise dann vermutlich (das ist jetzt eine böse
Unterstellung, ich weiß!) heterosexuell und zumindest in einer Landeshauptstadt, am besten aber in Wien (oder näherer Umgebung) wohnend. Ein unfaires Bildungssystem, das davon ausgeht, dass jedes
Kind – um Gottes Willen, Sie haben mehr als eins!? – daheim ein eigenes Zimmer mit Tisch und Rechner zum Erledigen der unerledigten Schulübung oder der anstehenden Hausübung hat. Ein Kind, das
Eltern oder Verwandte hat, die ihm helfen und ihm beistehen, die mit ihm ins Theater, in die Oper, ins Kino gehen, die mit ihm über Politik diskutieren und so weiter.

 

Das ist aber heutzutage bei vielen Jugendlichen, welche die Matura anstreben, nicht der Fall. Darüber kann man jammern, das kann man aber andererseits einfach auch als Faktum ansehen und
versuchen, in der Schule als Lehrer*in das Beste draus zu machen – nämlich die unfairen Anforderungen des Lehrplans abzufedern. Sagen Sie einmal dem Kind einer alleinerziehenden, bei einem
Diskonter mühsam den Lebensunterhalt verdienenden Mutter im oberösterreichischen Alpenvorland, das zwei jüngere Geschwister hat, dass das österreichische Bildungssystem Menschen in seiner
Situation eigentlich nicht vorgesehen hat! Nun, da erkennen wir wohl alle, dass hier der wohl dringendste Reformbedarf im österreichischen Bildungssystem besteht!

 

Kommen wir jetzt noch, bevor ich kurz mein Alternativmodell vorstellen möchte, zu meiner lamentatio specifica, zu meinem besonderen Angriff wider die „Zentralmatura“. Im Zuge des neoliberalen
„Vergleichbarkeitswahns“ der Jahre ab ca. 2000 wurden zunächst in einem deutschen Bundesland nach dem anderen, dann auch in Österreich die Forderungen immer lauter, die Matura doch mit „einer
zentralen Aufgabenstellung am gleichen Termin“ abzuhalten, damit das Ergebnis „gerechter“ und eben „vergleichbarer“ sein könne.

 

Das spezielle Problem in Österreich bestand darin, dass diese „Zentralmatura“, genauso wie das Projekt „Neue Mittelschule“, von der sozialdemokratischen Bildungsministerin Claudia Schmied als
Prestigeprojekt ohne Rücksicht auf Verluste und vor allem ohne Rücksicht auf den Lehrplan durchgezogen wurde. Es wurde sozusagen ein Dach gebaut, und uns Lehrer*innen wurde aufgetragen, unter
dieses Dach ein Haus namens Unterricht zu bauen, das zu diesem Dach passen solle. Und dann, gemeinsam mit den Schüler*innen, das Dach auf das Haus zu heben. Hat im Großen und Ganzen funktioniert,
aber einige Schüler*innen sind dabei vom Gerüst gestürzt…

 

Außerdem wurde vom Ministerium als „Bauherrn“ immer wieder nachgefragt, was an den einzelnen zentralen Aufgabenstellungen (sagen wir, um im Vergleich zu bleiben, Dachziegeln) verbesserungswürdig
wäre, wenn dann aber tatsächlich eine Rückmeldung erfolgte, das durfte ich am eigenen Leib erleben, kamen dann Antworten wie die folgende: „Wir danken Ihnen für Ihre Rückmeldung. Im angegebenen
Fall sind wir allerdings der Überzeugung, dass die Aufgabenstellung in der Art, wie sie gegeben wurde, sinnvoll ist.“ Man beachte die Verwendung des Majestätsplurals „wir“, der für mich wieder
zeigt, dass in Österreich die Zeit des aufgeklärten Absolutismus noch immer nicht vorüber ist (Sie wissen schon, Joseph II. mit dem ihm zugeschriebenen Spruch: „Alles für das Volk, aber nichts
mit dem Volk!“). Oder, um es in Abwandlung eines Spruches, der bei katholischen Geistlichen bekannt ist, zu sagen: „Vindobona locuta, causa finita!“ („Wien hat gesprochen, damit ist die Sache
erledigt!“).

 

Dass diese „Zentralmatura“ ein fürchterliches, keiner Hirn- und Herzbildung zuträgliches „Training for the Test“ nach sich gezogen hat, wo nur mehr „Skills“, also Fähigkeiten oder, wie man heute
sagt, „Kompetenzen“ (bei diesem Wort bekommen viele Lehrer*innen akuten Tinnitus!) gnadenlos gedrillt werden, wäre ein Thema für eine weitere argumentative Suada, die noch zu schreiben ist.

 

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass aus allen oben genannten Gründen die Matura eine definitiv zu verwerfende Prüfung ist. Ihre Abschaffung sollte besser noch heute als morgen
erfolgen!

 

Als Alternative schlage ich eine Durchrechnung der Noten der Oberstufe vor – und zwar in ALLEN Gegenständen, dann gibt es auch keine „Hauptgegenstände“ und „Nebengegenstände“ mehr. Natürlich
müsste der Lehrplan ZUERST in dieser Hinsicht überarbeitet werden – Basiskenntnisse müssen alle beherrschen, die können dann meinetwegen auch gerne zentral, am besten online, österreichweit
(andenkbar wäre: europaweit) und mit schneller Rückmeldung, also binnen einer Woche, abgeprüft werden, aber immer wieder im Laufe der jeweiligen Schuljahre, nicht abschließend in nur einer
überbewerteten Prüfung.

 

Es muss in diesem von mir angedachten System für jede Schülerin*jeden Schüler einerseits die verbriefte Möglichkeit geben, eine Förderung zu genießen, falls sie*er das nötig hat. Und es muss für
jene, die sich sonst fadisieren, andererseits eine Möglichkeit geben, ihren Begabungen entsprechend vieles auszuprobieren, Wissensgebiete sprichwörtlich zu „kosten“, deren Geschmack sie sonst
nicht einmal von Weitem wahrgenommen hätten. Also idealerweise Unterricht von Basiskenntnissen von, sagen wir, 9 bis 13 Uhr beispielsweise im Stil des „offen Lernens“ (von 8 bis 9 Uhr Eintreffen,
Hausübungsbesprechung, Fördern Runde 1, gemütlicher Kaffeeplausch, Bewegungseinheit oder ähnliches nach freier Wahl), ab 13:45 Uhr und am besten mit „Open End“ – nach einer ordentlichen
Mittagspause samt vernünftigem Essen – dann Förderung oder „Kosten von Wissensgebieten“ samt Vertiefung. Dieses Kosten kann und soll durchaus auch damit verbunden sein, dass sich Schüler*innen,
ihrem Interesse und ihren Vertiefungsschwerpunkten folgend, freiwillig prüfen lassen, durchaus auch im Rahmen international anerkannter Prüfungsbedingungen und Prüfungsformate.

 

Und meiner Meinung nach sollte die prozentuelle Verteilung der Noten im „Abschlusszeugnis“ jedes Jahr der Oberstufe gleich stark abbilden –also in der AHS 25:25:25:25 Prozent, in der BHS
20:20:20:20:20 Prozent. Über diese Prozentzahlen kann man streiten, mein Blickpunkt ist aber der, dass eben die eine*der eine mit 14, die andere*der andere mit 15, wieder eine andere*ein anderer
erst mit 16, 17, 18 oder 19 einen „Tiefpunkt“ oder einen „Höhepunkt“ hat, aus welchem Grund auch immer. Ein Durchschnitt ist, so bin ich überzeugt, viel gerechter als eine Einzelleistung, genauso
wie der Gewinn des Gesamtweltcups im alpinen Schilauf sicher eine viel größere Leistung darstellt als eine olympische Medaille. Wie genau benotet werden soll, das ist wieder ein anderes Thema,
dessen Behandlung hier zu weit gehen würde und zu dem sich namhafte Bildungsexperten, z.B. Rupert Vierlinger mit seinem „Plädoyer für die Abschaffung der Ziffernnoten“, schon ausführlich geäußert
haben.

 

Bei dem von mir angedachten Durchschnittmodell wäre ein Ausfall der letzten 15 Schulwochen – so, wie es jetzt der Fall ist – im Vergleich zu den gesamt 160 (AHS) oder 200 (BHS) viel eher
verkraftbar. Das leuchtet sicher allen Leser*innen ein.

 

Mein argumentativer Kampf gegen die Matura begann am 27. September 1984, als ich 17 Jahre alt wurde. Und er ist, wie es aussieht, noch lange nicht vorbei – zumindest nicht, solange ich lebe.

 

Ambros Gruber,

Lehrer für Deutsch und Französisch an einer BHS in OÖ