Was ist schön? Und was macht uns frei? Friedrich Schiller behauptet, dass „es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“.
Sehr geehrte Eltern, sehr geehrter Herr Direktor, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Maturantinnen und Maturanten,
nichts von allem, was ich im letzten Jahr gelesen habe, hat mich so angesprochen und berührt wie die eben zitierte Aussage – ich wiederhole sie noch einmal – dass „es die Schönheit ist, durch
welche man zur Freiheit wandert“.
Hier ein kleiner Einschub für die Insider: Ja, liebe MaturantInnen, Schiller hat das Relativpronomen „welche“ verwendet.
Was ist schön?
Schön ist, dass wir heute hier versammelt sind, um gemeinsam den Abschluss eurer Schulzeit und eure erfolgreiche „Reifeprüfung“ – auch wenn es noch mehr „Reifeprüfungen“ geben wird – zu feiern.
Hat diese Feier einen Nutzen? Wenn ja, vielleicht den, dass ihr eure Maturazeugnisse erhaltet. Aber die könntet ihr auch im Sekretariat abholen.
Hat diese Feier einen Sinn? Ich würde sagen: ja. Und worin liegt dieser Sinn? Ich würde sagen: gerade in der absoluten Zwecklosigkeit, die wahrer Freundschaft und wahrer Liebe innewohnt – sei es
der Liebe eines Paares oder der Liebe der Eltern zu ihren Kindern und der Liebe der Kinder zu ihren Eltern.
Selbstverständlich freuen wir uns als Eltern über gute Leistungen und schulische bzw. später berufliche Erfolge unserer Kinder. Aber wir lieben unsere Kinder auch ohne diese Leistungen.
Selbstverständlich freuen wir uns als LehrerInnen über gute Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler. Aber die schulischen Leistungen, die wir gezwungen sind, mithilfe einer fünfteiligen
Notenskala zu bewerten, sind nur ein Teil dessen, was Schule und Bildung ausmacht. Viel wichtiger ist die Grundlage jeglichen Lernens und jeglicher Bildung: die Beziehung, die zwischen Lehrenden
und Lernenden entsteht und im Laufe der Zeit wächst, eine Beziehung, die im besten Fall auch eine Umkehr der Rollen zulässt, wenn wir offen dafür sind, eine Beziehung, die es uns ermöglicht, uns
gegenseitig als Personen, als Persönlichkeiten wahrzunehmen, und – hin und wieder – Augenblicke, in denen aufgrund ehrlichen Interesses so etwas wie eine zweckfreie Atmosphäre entsteht. In
solchen Momenten ist Lehren – und ich hoffe auch, Lernen – schön.
Mehr denn je müssen wir uns als Lehrerinnen und Lehrer – im Gymnasium noch mehr als in den Berufsbildenden Schulen – Fragen von Schülerinnen und Schülern, aber auch von Eltern, von VertreterInnen
der Wirtschaft, ja von der gesamten Gesellschaft nach dem Nutzen, nach dem Zweck, nach der Verwertbarkeit des zu Lernenden, des angehäuften Wissens stellen.
„Der Nutzen“, schreibt Schiller (1794), „ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat
das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts.“
Wenn ich SchülerInnen frage: „Was möchtest du denn einmal werden?“, bekomme ich mittlerweile nicht selten die Antwort „reich“.
Selbstverständlich ist es nicht falsch, einen Beruf anzustreben, der einem ein gutes Verdienst und somit eine gute ökonomische Lebensgrundlage ermöglicht. Aber ist es richtig, alles dem Primat
der Ökonomie unterzuordnen? Wo bleibt da die Freiheit? Wo bleibt da der Mensch? Und: Wo und wie wollen wir leben? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? In welcher Gesellschaft wollt ihr,
liebe Maturantinnen und Maturanten, leben?
Schiller sagt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Und er meint damit
die Kunst. „Das Spiel eröffnet Freiheitsräume.“ (Safranski S. 43) „Dazu gehört auch eine Freiheit gegenüber bloßen Nützlichkeitserwägungen.“ (Safranski S. 44)
Was ist schön? Und was macht uns frei? Die Kunst – in welcher Art und Form auch immer – zeigt uns, dass die wichtigen Dinge des Lebens ihren Zweck in sich selbst haben: das Spiel im Spiel, die
Hingabe an jemanden oder etwas in dieser Hingabe, die Liebe in der Liebe und die Freundschaft in der Freundschaft.
Diese Zwecklosigkeit, diese Nutzlosigkeit ist es, die eine Schönheit bewirkt, „durch welche man zu der Freiheit wandert“.
Liebe Kinder, die ihr wart, als wir uns in der ersten oder auch in der fünften Klasse – oder noch später – kennengelernt haben, liebe Schülerinnen und Schüler, die ich jahrelang unterrichten
durfte, liebe Maturantinnen und Maturanten, die ihr jetzt – genaugenommen – schon nicht mehr seid, liebe junge Erwachsene: Ich wünsche euch viel Schönheit und viel Freiheit auf eurem Lebensweg!
Andrea Haslauer
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