derStandard: Kommentar der
anderen

 

Karlheinz Rohrer

 

Warum quälen wir Schüler mit veralteten Brachialprüfungen, statt die Zeit für echtes Lehren zu nutzen?

 

Seit Jahren wird diskutiert – Matura zentral oder dezentral, jetzt wo sie zentral ist, wie kann sie zugleich fair, gerecht, durchschaubar, bewältigbar und objektiv sein? Viele sicher sehr bemühte
Köpfe rauchen über diesen Fragen. Aber solange Menschen an der Matura beteiligt sind, wird das ein Wunschtraum bleiben.

Als Lehrer darf ich seit Jahren sehr viele Maturaprüfungen abnehmen – sowohl schriftlich als auch mündlich, wobei mein Fach nicht zentral geprüft wird. Und ich mag die Matura. Das ist schon immer
wieder ein beeindruckendes Schauspiel und ich habe große Hochachtung vor allen Schülern und Prüfern für die enorme Energie, die sie in diese Leistungen stecken und stecken müssen. Und dafür, dass
dies alles in den allermeisten Fällen mit großer Bravour über die Bühne gebracht wird.

Aber, und das ist ein großes Aber, wir brauchen sie nicht. Sie ist sogar schädlich. Die Matura stört beim konzentrierten Arbeiten. Gerade in dem Jahr, in dem es am allerfeinsten ist, mit unseren
Schülerinnen und Schülern zu arbeiten dreht sich alles um diese seltsamen Brachialprüfungen am Schluss, sodass praktisch (verstärkt durch die neuen und für alle verpflichtenden Diplomarbeiten)
mit Semester Schluss des normalen Programms ist. Die faktische Fast-Abschaffung der Vorbereitungsstunden zwischen schriftlicher und mündlicher Matura multipliziert diesen Effekt.

Dafür wird ein sündteures Theater um die Maturaprüfungen gemacht, die alles lähmen und allem widersprechen, was bis dahin gegolten hat. Es dürfen plötzlich, ein einziges Mal, bis zu fünf
schriftliche Arbeiten in einer Woche stattfinden, es dürfen mehrere mündliche Prüfungen an einem Tag stattfinden und das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird umgedreht. Anstelle einer Klasse, die einem
Lehrer gegenübersitzt, ist der Schüler plötzlich allein vor mindestens fünf Lehrern. Schon allein aus dem Setting heraus entsteht dabei großer Stress.

Ich würde gern mit meinen Schülern ein tolles letztes Jahr in der Schule haben, das bis zum letzten Schultag dauert, mit ihnen arbeiten, diskutieren, Spaß haben. Die Matura aber zwingt zum
Bulimielernen, Fächer, die nicht bei der Matura geprüft werden, können, selbst bei Interesse nicht mehr ganz ernst genommen werden, da die gesamte Energie in die letzten Prüfungen gesteckt werden
muss.

Dabei ist Objektivität niemals herstellbar. Menschen sind unterschiedlich und bewerten unterschiedlich. Das Argument, es müsse halt auch zentral korrigiert werden, geht ins Leere, weil ja auch
ausgelagert nicht von einer einzigen Person bewertet werden würde, sondern von vielen, nur anonymer. Und die Vorstellung, dass irgendein Computer zentral etwa Deutsch- oder Englischarbeiten
bewertet, verursacht sicher nicht nur bei mir ein großes Gruseln.

Die Matura ist neben der enormen Geldverschwendung, die in Richtung Gebühren, Vorsitze und Bifie geht, auch ein großes Sparpaket. Kaum jemand außer den betroffenen Lehrern weiß, dass die Arbeit
in Maturaklassen, die naturgemäß besonders hoch ist, praktisch nur bis Ende April bezahlt wird. Für alles danach gibt es nur mehr geringe Gebühren, die den tatsächlichen Aufwand nicht einmal
annähernd decken, sondern eigentlich ein Hohn sind.

Dass die Matura trotz alledem immer wieder so erfolgreich stattfinden kann, liegt am Engagement der Lehrer, denen ihre Schüler gerade zu diesem entscheidenden Zeitpunkt viel zu wichtig sind, um
Dienst nach Vorschrift zu machen. Aber man sollte nachzurechnen, wie viel sich der Staat erspart, indem er für alle Maturaklassen zwei Monate lang kein Geld mehr ausgeben muss.

Zudem ist die Matura in vielen Bereichen nicht mehr das, was sie ursprünglich war – die Studienberechtigung. Allzu viele Studien und Fachhochschullehrgänge setzen nur mehr auf eigene
Eignungstests. Auch das zeigt den Nicht-Wert einer solchen Prüfung.

 

Ritual der Grausamkeit

 

Dann gibt es natürlich auch noch das Argument, dass die Matura ein wichtiges Ritual sei, das einen würdigen Abschluss einer Schullaufbahn darstelle. Geschenkt. Wer jedes Jahr bestens vorbereitete
Schüler am Rande des Nervenzusammenbruchs erlebt, weiß, dass dieses schöne Ritual maximal grausamen Initiationsriten gleicht. Die meisten Maturanten werden nie wieder einer solchen Situation
ausgesetzt sein. Sie bereitet nicht aufs Leben vor, sie kostet wertvolle Lebens- und Lernzeit. Meine Vision ist ein Abschlusszeugnis, das einfach – bolognakonform – „Matura“ heißt. Vielleicht
verbunden mit der Präsentation einer Diplomarbeit oder eines Projekts, an dem aus Interesse gearbeitet wurde, worauf Schüler wirklich stolz sein können. Präsentiert vor einem Publikum, das nicht
extra dafür bezahlt werden muss, sondern gerne und interessiert kommt.

 

(Karlheinz Rohrer, 8.7.2016) Karlheinz Rohrer ist Professor für Pädagogik an der Bundesanstalt für Kindergartenpädagogik (Bakip) Hartberg und ÖLI-UG-Mitglied der Bundesleitung der
BMHS-Lehrergewerkschaft.