Harsche Kritik übt die IG Autor*innen an den Themenstellungen der Deutsch-Zentralmatura. Die IG kritisiert eine unausgewogene Themenauswahl, Themenstellungen mit zu strengen Handlungsanweisungen
und zu wenig Informationen über die zu behandelnden Künstler*innen, die Kunstwerke und ihre zeitlichen Hintergründe.
Es folgt der Brief der IG Autor*innen im Wortlaut:
Kunst und Literatur als Mittel der Entmündigung
Deutsch-Zentralmatura wird immer problematischer
Nach ein paar Jahren leidlich gelungener Aufgabenstellungen hat das Themenpaket „Literatur – Kunst – Kultur“ der Deutsch-Zentralmatura 2021 einen neuen
Tiefpunkt erreicht.
Gesamtzusammenhang – Erste Rückmeldungen
Zum wiederholten Male sind die Anforderungen der drei Themenpakete äußerst unterschiedlich. Eine erste Umfrage der IG Autorinnen Autoren unter einem Dutzend Lehrer/innen der AHS und BHS, die
dieses Jahr Maturaklassen betreuten, ergab, dass
fast alle Kandidat/inn/en das zweite Themenpaket wählten, dessen Textsorten „Zusammenfassung“ und „Erörterung“ besonders einfach zu bewältigen waren. Lediglich ein musisches Spezialgymnasium
mit „Literatur“ als Schwerpunkt meldete, dass acht von 22 Antretenden das Literaturthema riskierten. Die Lehrerin erhielt allerdings zahlreiche Rückmeldungen über die fehlenden Ansprüche der
Aufgaben. Nicht zuletzt wurde die völlige Entmündigung beklagt, die ausgerechnet dort stattfindet, wo Kreativität und der kritische Zugang die größte Rolle spielen sollten, im Bereich von Kunst
und Literatur.
Das Paket „Literatur – Kunst – Kultur“ – Themenstellungen
Das Paket besteht aus der Textinterpretation einer Kurzgeschichte von Werner Kofler aus dem Jahr 1985 sowie der Zusammenfassung eines Zeitungsartikels über die Malerin Frida Kahlo. Die
Textsorte Zusammenfassung schließt per definitionem das Einbringen eigener Gedanken aus. Von den vier Aufgaben des literarischen Teils stellen drei ebenfalls auf Reproduktion bzw. (noch viel
schlimmer) auf die bedingungslose Untermauerung vorgegebener Haltungen zum Text ab. Nur die verlangte Deutung des Verhaltens der zentralen Gestalt der Kurzgeschichte erlaubt in beschränktem Maß
selbständige Überlegungen.
Kritik
Die literarische Aufgabenstellung ist völlig misslungen. Der gewählte Text „Im Verbrauchermarkt“ stellt in seiner unmissverständlichen Eindeutigkeit kaum Ansprüche, was Form und Inhalt
anlangt. Wie immer geht es bei der Interpretation um reine Werkimmanenz, das heißt, die Persönlichkeit des Autors sowie daraus resultierende Kontexte bleiben ausgeblendet. Die „Infobox“ ist
keine. Nützliche Informationen? Fehlanzeige. Kofler sei ein österreichischer Schriftsteller, heisst es, der Text dem dritten Abschnitt des Buches „Amok und Harmonie“ entnommen und Dr. Oetker ein
deutsches Nahrungsmittelunternehmen.
Auch der literaturbezogene Teil des Paketes beginnt mit einer zu erstellenden Zusammenfassung (die im zweiten Teil über Kahlo die einzige Textsorte bleibt und damit über 50% der Matura
ausmacht) und nicht mit der Interpretation selbst. Dass Interpretationen unbedingt mit der lähmenden Zusammenfassung des Gelesenen beginnen müssen, ist nämlich ein von den Textfabrikant/innen der
Maturathemen kreierter Mythos.
Die in der Folge verlangte Analyse der formalen und sprachlichen Gestaltung müsste bei einer nachlässig komponierten Prosa wie der angebotenen kurz ausfallen. Der Kommentar für die Korrektur
offenbart den Lehrenden freilich die mangelnde Fachkompetenz der Aufgabensteller/innen. Diese listen eine Unzahl an den Haaren herbeigezogener stilistischer Merkmale des Textes auf, die zuweilen
nur noch unfreiwillig komisch ausfallen: So wäre es wünschenswert, wiesen die Geprüften auf Alliterationen und Assonanzen hin, z. B. „Oetker Gewürz- wie Oetker Käse-Cracker […] mit krachenden
Geräuschen“.
Drittens gilt es das Verhalten des Protagonisten zu deuten. Im Lehrerkommentar kommen die Aufgabenerfinder/innen dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Vor allem aber bewegen sie sich
unendlich weit weg vom Text, indem sie etwa behaupten, der Protagonist übe Kritik „an der spezifischen Vertriebsform ‚Großmarkt‘ im Gegensatz zum Greißler, der die Kunden bedient.“ Dafür gibt es
keinerlei Beleg im Text. Jeder Deutungsansatz im Kommentar bezieht sich auf rational motivierte Kritik am Konsumkapitalismus durch den Protagonisten und schließt alle anderen
Deutungsmöglichkeiten de facto aus. Schließlich werden die Kandidat/inn/en gezwungen zu begründen, warum der Text heute noch aktuell ist. Eine andere Ansicht darf nicht vertreten werden, jede
Hinterfragung der vorgelegten Prosa ist verboten.
Fazit
Das Literaturvertreibungsprogramm der österreichischen Schule, propagiert durch das Bildungsministerium, wird fortgesetzt. Die langjährige Forderung der IG Autorinnen Autoren, unterstützt
auch von Persönlichkeiten aus anderen Bereichen, den Gegenstand „Deutsch“ in „Deutsch und Literatur“ umzubenennen, wird im Entwurf zu den neuen Bezeichnungen etlicher Schulfächer ab 2022 nicht
einmal ignoriert. In der Primarstufe soll sogar Lesen und Schreiben aus der Fachbezeichnung gestrichen werden.
Transparenz wird im Bildungsministerium traditionell kleingeschrieben. Die typisch österreichische List, die ungeeignete zentrale Abwicklung der Reifeprüfung Deutsch aus der
gesellschaftlichen Diskussion zu nehmen, indem ein besonders schlichtes Themenpaket geschnürt wird, wodurch es kaum ein Nicht genügend zu registrieren gibt, greift voll: Hauptsache durch. Niveau
wurscht. Valide Zahlen über das verheerende Missverhältnis der gewählten Themenpakete, die theoretisch gleichen Schwierigkeitsgrad haben sollten, hält das Ministerium seit Jahren zurück. Ein
Umdenken ist dringend geboten.
Gerhard Ruiss, Ludwig Laher
IG Autorinnen Autoren
Wien, 21.5.2021
Bildnachweis: Bild von
OpenClipart-Vectors auf Pixabay
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