Wir sollten immer aufmerksam zuhören, wenn uns Schüler/innen von ihren Schulerfahrungen erzählen, ihre Meinungen zum Bildungssystem mitteilen und Anregungen für die Bildungspolitik geben. Sie
haben uns viel zu sagen.Deshalb stellen wir den offenen Brief von Elodie Arpa und Walburga Plunger (Maturantinnen) ungekürzt auf die ÖLI-UG
Homepage 

Offener Brief von Maturantinnen zum Österreichischen Bildungssystem

 

Von Elodie Arpa und Walburga Plunger
     
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Dr. Alexander Van der Bellen!
Sehr geehrter Herr Bildungsminister Dr. Heinz Faßmann!
Sehr geehrte Verantwortliche, Fachkundige und Veränderungsinitiatoren!


Alle Jahre wieder: Kritik an der Zentralmatura. Wie erklärt man das schlechte Abschneiden österreichischer Schüler bei der Pisa-Studie? Was tun mit tausenden Schulschwänzern? Warum fühlen sich
Maturanten mit den Anforderungen von Universitäten überfordert?
Das Bildungssystem Österreichs ist eine ständige Baustelle. Reformen scheinen eher Reförmchen gewesen zu sein, brachten winzige, vor allem administrative Veränderungen. Im Schulalltag selbst hat
sich für die meisten Schüler und Lehrer kaum etwas verändert. Seit Jahren und Jahrzehnten nicht. Wie das sein kann? Das haben wir uns auch gefragt!

Wir sind Elodie Arpa und Walburga Plunger, zwei Maturantinnen, die nach zwölf Schuljahren nun direkt vom Ort des Geschehens berichten wollen. Den Anstoß dazu gab uns unsere Klasse: Denn sie war
sich einig. Und das ist eine Seltenheit! An gefangen vom Klassenfoto über Ausflugsziele bis hin zur Maturareise schien ein konstruktiver Meinungsaustausch unmöglich. Doch als wir im
Deutsch-Unterricht das Thema Bildung durchnahmen, brachte sich jeder, wirklich jeder Schüler ein, unterbreitete Vorschläge und gab der Dringlichkeit dieses Themas seine Stimme. Und genau das
wollen wir hiermit auch tun.
 
Gute Lehrer prägen fürs Leben. Und das sollten sie auch. Unterrichten ist mehr als reines Abtesten. Um Wissen zu vermitteln, muss ein Lehrer die Schüler dort abholen, wo sie stehen und sie durch
den Schulalltag begleiten. Doch auch das muss gelernt sein! Deshalb sollte das Lehramt-Studium einen stärkeren Fokus auf Pädagogik legen (indem theoretische Kenntnisse vermittelt aber auch
vermehrte Praktika an Schulen gefordert werden). Denn vor allem junge Lehrer werden diesbezüglich ins kalte Wasser geworfen und haben Schwierigkeiten sich durchzusetzen. Und auch erfahrene Lehrer
sehen sich mit unwilligen Schülern und herausfordernden Situationen konfrontiert. Um Überforderung und Frust entgegenzuwirken, sollte es nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrkräfte
ständige Ansprechpersonen (etwa in Form eines Sozialberaters) an Schulen geben.

 

Leistungen werden verfälscht
Für ein „Sehr gut“ soll man die Aufgabenstellung in einem weit über das Wesentliche hinausgehendem Ausmaß erfüllen und dabei deutliche Eigenständigkeit vorweisen. Wie das bei einem
standardisierten Test im Kreuzchen-Format funktionieren soll, ist ein Rätsel. Wegen dieser unklaren, oft unerreichbaren Notendefinition, greifen viele Lehrer auf das Prinzip der Gauß’schen
Glockenkurve zurück. Die meisten Schüler sind „befriedigend“, einige wenige „sehr gut“ oder eben auch „nicht genügend“. Lehrer orientieren sich bei der Notenvergabe am Niveau der jeweiligen
Klasse. Das führt nicht nur zu vermehrtem Konkurrenzkampf zwischen Schülern, sondern verfälscht auch ihre wirklichen Leistungen. Statt am Vergleich mit Mitschülern, sollte die Notenvergabe sich
an einem Ideal, einer verständlichen, erreichbaren aber doch hoch angesetzten Definition orientieren.

Und auch die Testformate gehören verändert. Denn selbst wenn standardisierte Tests im Kreuzchen- und Einsetzformat das Korrigieren erleichtern, geht durch das Ersetzen offener Antwortformate viel
verloren. Nur wenn man einem Schüler die Möglichkeit gibt, seine Gedanken zu einem Thema frei zu formulieren, lernt dieser sich eine eigene Meinung zu bilden, diese verständlich auszudrücken und
mit Argumenten zu untermauern. Nur offene Antwortformate sind es, die Raum lassen für Kreativität, kritisches Denken und deutliche Eigenständigkeit – die am Arbeitsmarkt (im Angesicht von
Digitalisierung) gefragter sind denn je!
Die wenigsten Schüler lernen, um zu wissen. Den meisten geht es nur darum, keine schlechte Note nach Hause zu bringen. In kürzester Zeit werden riesige Stoffmengen aufgenommen, meistens beginnt
das Bulimie-Lernen am Vorabend der Schularbeit. Und so schnell wie man das Wissen auswendig gelernt hat (oft ohne eine Ahnung von Kontext und Anwendungsmöglichkeiten zu haben), vergisst man es
auch wieder. Dass das langfristig nicht zielführend ist, ist jedem klar. Doch warum sollte man sein Bestes geben und gute Noten anstreben, wenn man dafür nicht belohnt wird? Ist das Zeugnis nicht
katastrophal, so interessiert es in Österreich niemanden. Weder bei der Praktikumssuche, noch bei der Anmeldung an der Universität spielen gute Noten eine Rolle. Doch das sollten sie!
Anstrengungen, Interessen und Talente müssen gewürdigt und gefördert werden. Besonders engagierte Schüler sollten sich in Förderkursen zusammenfinden und die Möglichkeit haben an ihren Schulen
unterschiedliche Aktivitäten -von Debattierclubs bis hin zu einem Schulorchester -ohne größere administrative Hindernisse auf die Beine zu stellen. Ist es nicht im Interesse ganz Österreichs,
begabten und motivierten Jugendlichen Chancen zu bieten und sie in ein Netzwerk unterschiedlicher Workshops, Vorträge und Weiterbildungsmöglichkeiten einzubinden?

 

Möglichkeiten der weltweiten Kommunikation
Stets wird es angepriesen: lebenslanges Lernen. Während Schüler sich schon mit dem Gedanken abgefunden haben, auch in ihrem späteren Berufsleben immer auf dem neuesten Stand bleiben zu müssen,
fühlt sich das Wissen, das man in der Schule vermittelt bekommt, oft überholt und nicht mehr zeitgemäß an. Am Puls der Zeit lehren. Das bedeutet, dass Lehrer in Schulungen ihren Horizont
erweitern und neue Erkenntnisse aus der Psychologie und Pädagogik in ihre Unterrichtsmethoden einfließen lassen können. Das bedeutet, dass man auf Fähigkeiten, die Schüler in ihrer Zukunft
brauchen werden, besonderen Fokus legt (Bewerbungs- und Motivationsschreiben, Prozentrechnen). Und das bedeutet auch, dass die Digitalisierung ernsthaft Einzug in den Schulen halten muss.
E-Learning (seien es aufgenommene Vorlesungen von Top-Universitäten wie Yale und Oxford oder Erklärungsvideos auf YouTube) sollte aktiv in den Unterricht eingebaut und Schüler aufgefordert
werden, beim Erlernen einer neuen Sprache auf Möglichkeiten der weltweiten Kommunikation (Austausch mit

Muttersprachlern via Skype) zurückzugreifen.

 

Um in eine vielversprechende Zukunft blicken zu können, muss man aus seinen vergangenen Fehlern lernen. Was auf jeden einzelnen Menschen zutrifft, gilt auch für unsere Gesellschaft als Ganzes.
Eines der wohl wichtigsten Schulfächer, ist daher zweifellos Geschichte und politische Bildung. Und sicherlich ist es auch eines der Fächer mit dem herausforderndsten Lehrplan. Trotzdem
rechtfertigt das nicht die Tatsache, dass dieser nicht weiter als bis zum zweiten Weltkrieg reicht. Die letzten siebzig Jahre, die unsere Welt so wesentlich geprägt haben, werden totgeschwiegen.
Aus Angst, dass die Ereignisse zu aktuell, daher nicht fundiert genug seien und von Lehrern, die sie gewissermaßen als Zeitzeugen miterlebt haben, nicht objektiv dargelegt werden würden. Das
gleiche gilt für die politische Bildung, von der die meisten Schüler während ihrer Schullaufbahn kaum etwas mitbekommen. Doch auch wenn man bei komplexen moralischen und politischen Fragen –
sowie bei Gegenwartsgeschichte – Gefahr läuft, Schüler zu beeinflussen: Nichts ist bedenklicher, als solche Themen gar nicht zu behandeln! Denn aktuelle Themen außen vor zu lassen, ist
langfristig keine Lösung. Im Gegenteil.
Alle Jahre wieder: Kritik an der Zentralmatura. Und auch wir haben Vorschläge zu machen. Wir wollen der Matura – und damit auch den Schülern – den (unnötigen) Druck nehmen, nicht aber ihren
Schwierigkeitsgrad.

 

Wie repräsentativ sind Maturanoten wirklich?
Die Vorwissenschaftliche Arbeit ist ohne Zweifel eine der herausforderndsten Aufgaben, die ein Schüler in seiner Schullaufbahn zu meistern hat. Um dabei nicht im Dunklen tappen zu müssen, sollten
die Lehrer mehr Schulungen erhalten, um der Rolle des Betreuers gerecht werden zu können und die Schüler bei Fragen beratend zu unterstützen. Denn gelingt das Verfassen der VWA, so stellt diese
für die Schüler mehr als ein Pack Zettel dar: Zum ersten Mal seit Schuleintritt können sie von ihren eigenen Interessen berichten, zum ersten Mal werden diese gehört und gewürdigt. Doch nicht nur
das: Durch die VWA erwerben Schüler (vom Erstellen einer logischen Gliederung bis hin zum Kennenlernen von Zitierregeln) Wissen, das viele von ihnen während ihres Studiums brauchen werden. Das
macht den Umstieg von Schule zu Universität immer noch aufregend genug und doch ein kleines bisschen leichter – denn immerhin wissen Maturanten, wie viel Arbeit hinter Worten wie Eigenständigkeit
und Deadlines steckt.

 

Das Maturazeugnis soll als Reifeprüfungszeugnis einen Überblick über das Wissen eines Schülers liefern. Doch wie repräsentativ sind Maturanoten wirklich? Stellt die Benotung einer einzigen
Prüfung ein würdiges Abbild der über viele Jahre erbrachten Schulleistungen dar? Oder ist die Zentralmatura vielleicht nur eine weitere Schularbeit, bei der es die Tagesverfassung und der Grad
der eigenen Nervosität sind, die den größten Teil des erreichten Ergebnisses ausmachen? Ein Beispiel: Ein Schüler, der jedes Jahr mit ausgezeichnetem Erfolg in die nächsthöhere Klasse
aufgestiegen ist, mag am Tag der Matura schlimme Kopfschmerzen oder ein Blackout haben. In seinem Zeugnis finden sich daraufhin nur „genügende“ statt „sehr gute“ Leistungen. Mögliche Erklärungen
hierfür: Pech. Oder ist es doch ein Fehler im System?
Um eine solche Situation, enttäuschend und ärgerlich wie sie ist, in Zukunft verhindern zu können, sollten die Maturanoten sich einerseits aus dem Ergebnis der Maturaprüfungen zusammenstellen,
andererseits aber auch die Noten der Schüler während ihrer Schullaufbahn berücksichtigen. Denn die Ergebnisse der letzten zwölf Jahre, die Maturanten erbracht haben, sollten nicht umsonst gewesen
sein! Zählen die Schulnoten fürs Abschlusszeugnis, so ist das ein Ansporn, der Schüler motiviert, nicht nur keine schlechten Noten, sondern gute Noten nach Hause zu bringen. Denn immerhin könnten
sie sich so im Vorhinein ein bisschen von dem enormen Druck der Maturazeit nehmen. Und ein Stück weit ihre Zukunft gestalten.

 

Zentralmatura ohne Fairness!
Zentralmatura. Bereits im Namen liegt ihr Ziel. Aufgabenstellungen sollen zentral verfasst, Ergebnisse vergleichbarer und somit letztendlich fairer gemacht werden. Als selbsterklärend könnte man
dabei die Tatsache nehmen, dass alle Schüler mit gleichen Voraussetzungen ihre standardisierten Prüfungen bewältigen. Doch wenn einige Klassen bei der Deutsch-Matura am Computer und andere mit
der Hand auf Papier schreiben müssen, dann wird deutlich: Hier kann man nicht von zentral, von Vergleichbarkeit und schon gar nicht von Fairness sprechen! Denn in fünf Stunden rund 1000 Worte mit
der Hand zu verfassen, umständlich zu editieren, dann nochmal in Reinschrift abschreiben und vor dem Abgeben noch die genaue Wortanzahl zählen zu müssen, ist ein schwieriges – ja im wahrsten
Sinne des Wortes leidiges – Unterfangen. Am Computer fällt all das weg. In einheitlicher, immer lesbarer Schrift schreibt man zwei Texte, deren Wortanzahl automatisch am Bildschirmrand erscheint.

 

Fehler ausbessern und die Struktur einzelner Absätze zu verändern, geht ganz leicht. Eine Reinschrift braucht man nicht. Unfair sind auch die je nach Schule unterschiedlichen Taschenrechner und
Mathematik-Computerprogramme. Auch hier gibt es Unterschiede.
Auch hier müssen diese angeglichen werden – oder man gibt unserer Zentralmatura einen neuen, der Realität entsprechenden Namen.
Soll eine Prüfung möglichst vergleichbar, möglichst objektiv sein, so reicht es nicht, einheitliche Aufgabenstellungen zu erstellen. Denn die Korrektur ist mindestens genauso ausschlaggebend. Da
stellt sich bereits die erste Frage: Wer benotet? Der eigene Lehrer, der die Schüler über Jahre unterrichtet hat, ist von ihrem vergangenen Abschneiden und Verhalten voreingenommen. Bestes
Beispiel: Die Deutsch-Matura, bei der das Korrigieren, da es hier (zum Glück) nicht ums Kreuzchen-Setzen geht, immer im Ermessen und somit in den persönlichen Erwartungen und Vorlieben des
Bewertenden liegt. Um hierbei wenn nicht Objektivität, zumindest Unvoreingenommenheit garantieren zu können, sollten Deutsch- Arbeiten anonym von unterschiedlichen (vielleicht jeweils zwei)
Lehrern der eigenen Schule oder auch anderen

Schulen korrigiert werden.

 

Diskussionen ohne Ergebnisse
Und nun zum allerletzten Schritt der Schullaufbahn: die mündlichen Prüfungen, die von einer Kommission, bestehend aus dem Vorsitzendem, dem Direktor, dem Klassen Vorstand und zwei Fachlehrern
bewertet werden. Das macht das Prozedere sehr offiziell – und die Benotung eher unprofessionell. Denn auch wenn es die zwei Fachlehrer – Prüfer und Beisitz – sind, die eine Note vorschlagen:
Theoretisch hat jedes Mitglied des Komitees bei der Benotung ein Wörtchen mitzureden. Doch wenn ein Schüler in Spanisch antritt und drei der fünf Kommissionsmitglieder gerade einmal hola sagen
können, wie sollen diese den Inhalt, den Ausdruck oder die Aussprache des Maturanten bewerten? Würden aber fünf Fachlehrer das Prüfungskomitee bilden, so wäre eine wirkliche Bewertung des Wissens
– und nicht der reinen Präsentation – des Schülers möglich. Und letztendlich ist das ja das Ziel einer Reifeprüfung: Nicht nur möglichst zentral, objektiv und fair zu wirken, sondern es auch
tatsächlich zu sein.


Im Herbst 2018 soll der erste Teil einer neuen Bildungsreform in Kraft treten. Vielleicht kommen unsere Anregungen zu spät, vielleicht sind sie schwer umsetzbar, doch vielleicht verdeutlichen
unsere Reflexionen die Perspektive der über eine Million österreichischer Schüler, welche von der immerwährenden Diskussion zur Bildung letztendlich am meisten betroffen sind. Das jedenfalls
hoffen wir.
Diskussionen sind gut und wichtig, doch viele Jahre, Jahrzehnte lang, ist es nur dabei geblieben. Einzelne Schulversuche wurden eingeleitet, doch wirkliche Umbrüche, umfassende Veränderungen gab
es keine. Nun müsste man einen wahrlich großen Sprung wagen. Das ist risikoreich, kostspielig, ungewiss, ja. Doch stagniert unser Bildungssystem weiterhin, während sich alles um uns (vom
Arbeitsmarkt über Folgen der Globalisierung und des Klimawandels bis hin zu Kommunikationsmitteln) vollkommen verändert, so wird das Konsequenzen haben. Denn Bildung ist der Grundstein für eine
funktionierende Gesellschaft. Wollen wir ein wettbewerbsfähiges, wohlhabendes Land sein? Wollen wir erfolgreiche, selbstbestimmte Leben führen? Dann muss Veränderung im Schulwesen an erster
Stelle stehen! Da ist sich sogar unsere Klasse einig. Und das heißt etwas.

 

Mit freundlichen Grüßen,
Elodie Arpa (Ehemalige Klassensprecherin und Schülerin des BG Untere Bachgasse Mödling)
Walburga Plunger (Ehemalige Schülerin des BG Untere Bachgasse Mödling)