Buchrezension von Ilse M. Seifried

Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat.
Gerda Lerner

Am 14. Juni 2018 war in den Medien zu lesen, dass der Grundsatzerlass zum Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ nach 23 Jahren (eingeführt von Frau BMin Gehrer)
entrümpelt werden soll.
(siehe Blog vom 15. Juni: „ABGESCHAFFT: Grundsatzerlass zum Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“

 

Die grüne Bundesrätin Ewa Dziedzic stellte eine parlamentarische Anfrage bzgl. dieser Aufhebung. Keine Entsorgung sondern eine Aktualisierung soll bis Schulbeginn 2018/19 fertig sein, wurde aus
dem BMBWF bekannt.

Somit ist ein Impuls gegeben, sich das Thema „Gleichstellung“ und seiner Entwicklung im österreichischen Schulwesen zu vergegenwärtigen.
Dafür eignet sich sehr gut die 2017 erschienene Publikation der ehemaligen Abteilungsleiterin für Gleichstellungsfragen im BM (die Abteilung wurde zuerst „für ressortspezifische Frauenfragen“,
dann „für Mädchen- und Frauenbildung“, später „für geschlechtsspezifische Bildungsfragen“ und schließlich „für Gender Mainstreaming/ Gleichstellung und Schule“ genannt), von

Frau Drin Doris Guggenberger.
Der lange Weg. Von der Mädchenbildung zu Gender und Diversität.
Ein halbes Jahrhundert Schulpolitik zur Gleichstellung von Mädchen und Burschen in Österreich.

LIT Verlag, Wien 2017, 796 Seiten, ISBN 978-3-643-50841-6, Preis € 69,90


Hier sind Fakten detailreich dokumentiert. Nach der Einleitung wird klar, welcher politischer Rahmen ab den 1960er Jahren gegeben war. Im zweiten Kapitel wird nachvollziehbar, wie sich
Bewusstsein für die Thematik „Gleichstellung“ in den 1970iger Jahren entwickelte. Im dritten Kapitel folgt die thematische Differenzierung und Institutionalisierung der 80iger Jahre. Daran
schließt die weitere Differenzierung und Internationalisierung an. Ab 2000 bis heute findet eine Neuorientierung statt.
Diese Zeit komprimiert zusammengefasst ist wirklich eine nicht nur interessante und aufschlussreiche Lektüre sondern auch eine spannende!

Wer der Lehrer_nnen, die im Schulalltag gefordert sind, nimmt sich die Zeit und reflektiert die letzten 50 Jahre unter dem Aspekt „Gleichstellung“? Welch Unterfangen! Je nach Alter haben die
Lehrer_nnen die Veränderung der Bildungsinhalte (Werkerziehung, Hauswirtschaft, Geometrisches Zeichnen u.a.m.), des Miteinander-leben-und-Lernen in Form der Koedukation mitvollzogen, die
sprachliche Gleichbehandlung, die Veränderung der Schulbücher erlebt und auch die der Berufsorientierung. Was jungen Kolleg_nnen selbstverständlich ist wie z.B. Gewaltprävention, Migration,
Gender Gaps u.a.m. ist ein noch junger Bereich im Schulgeschehen.
An den Universitäten erfuhren gendertheoretischen Konzepte im Laufe der Forschung große Veränderungen. Heute ist Gender Studies ein 4-semestriges Masterstudium.
Dass der türkis-blaue Regierung das Thema „Gleichstellung“ kein Anliegen ist, im Gegenteil, diese die Gender-Bewußtseins-Uhr gerne in die 1950iger Jahre zurückdrehen würde, ist an den
Gesetzesänderungen und Vorschlägen zu sehen. Darum erscheint es mir wichtig, über Wissen über die vergangenen 50 Jahre zum Thema „Gleichstellung“ zu verfügen.

Die Autorin Doris Guggenberger hat ihr selbstgestecktes Ziel erreicht! Ihr ist es gelungen, anhand von Sitzungsprotokollen, Resolutionen, Gesetzestexten u.a. den Prozess und die Entwicklungen zu
vermitteln, auf welche Weise die Österreichische Schulpolitik versuchte, geschlechterbezogenen Ungleichheiten entgegenzuwirken und wie sie zum Abbau geschlechtsspezifischer Diskriminierung
beitrug.
Es zeigt sich, dass manches rascher oder langsamer umgesetzt werden konnte (z.B. wurden formal Mädchen und Buben bereits 1962 gleichgestellt, 1975 war die Koedukation flächendeckend umgesetzt.
Sprachliche Gleichberechtigung wurde die die Verwaltungsverordnung 2002 verpflichtend im gesamten Ressort).
Es werden die gegenwärtigen Herausforderungen (z.B. die Zuwanderung von Menschen mit traditionellen Rollenbildern, der immer noch nicht flächendeckenden Ganztagsschule bzw. Kinderbetreuung u.a.)
aufgelistet. Gibt es den Willen zur praktischen Umsetzung der strukturell gut verankerten Umsetzung noch?
Um österreichweit die Professionalisierung der Pädagog_nnen der Geschlechter- und Diversitätsforschung und -pädagogik sicherzustellen, sind noch viele Maßnahmen erforderlich. Für diese stehen
jedoch keine dafür notwendigen zusätzlichen Gelder zur Verfügung.
Die Autorin schließt mit den Worten: „Der Weg zur Gleichstellung ist noch lang und die Erreichung dieses Ziels setzt ein Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Bereiche voraus, um erfolgreich
und nachhaltig Maßnahmen zu setzen.“

Dieses Buch zu lesen und zu diskutieren kann ein Schritt in diese Richtung sein!
Zu hoffen bleibt, dass der neue Grundsatzerlass zum Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ gegenwartsbezogen und zielorientiert optimiert in Richtung
„Gleichstellung“ geht.

Der Sinn von Politik ist Freiheit
Hannah Arendt