Das Schulwesen in Südtirol schneidet in internationalen Vergleichen deutlich besser ab als die österreichische Schule. Wir werfen Blicke hinter die Kulissen.
Von Barbara Gessmann-Wetzinger *
ÖLI-Exkursion an Südtiroler Schulen, die Zweite oder: Inklusion zwischen Theorie und Praxis
Diesmal: Wir treffen uns mit Eltern und besuchen den Unterricht.
Wir erhielten Gelegenheit, mit Eltern behinderter Kinder in Kontakt zu treten. Wir sprachen mit der Mutter eines schwerstbehinderten Buben, dem Pflegevater eines sehr schwierigen,
entwicklungsverzögerten Buben sowie der Mutter eines Mädchens, das an Dyskalkulie leidet.
Die Mutter des schwer behinderten Kindes beschrieb die Grundschulzeit ihres Sohnes als äußerst geglückt. Probleme stellten sich erst beim Wechsel in die Mittelschule ein. Sowohl
Betreuungsqualität als auch Entwicklungsfortschritte wären in der Grundschule viel größer gewesen.
Die Mutter belastet sehr, dass ihr Kind nur einmal, höchstens zweimal Nachmittagsunterricht hat. Sie müsse ja arbeiten gehen. Besonders schlimm wird es, wenn die Mitarbeiterin für Integration
krank wird und die zum Einspringen vorgesehene Betreuerin schon anderswo gebucht ist. Die Mut-
ter muss dann von der Arbeit zu Hause bleiben. In Mals kennt man keinen Transportdienst zu Therapien, wie er in Buneck bekannt ist. Die schulische Mitarbeiterin für Integration begleitet Mutter
und Sohn nachmittags zu den Therapien.
Der Sohn wird nach der Mittelschule in die Behindertenbetreuungseinrichtung wechseln, die sich auch um die größere Tochter kümmert. An weiteren Schulbesuch ist nicht zu denken. Der Pflegevater
des entwicklungsverzögerten, verhaltensauffälligen Kindes ist mit dem Verlauf der Schulzeit seines Pflegesohnes sehr zufrieden. Die Unterstützung reichte weit über den schulischen Bereich hinaus
und half mit, viele Defizite auszugleichen. Der Sohn wird heuer die Mittelschule mit dem Diplom beenden und dann in eine zweijährige Berufsvorbereitungsschule wechseln.
Die Mutter des Mädchens mit Dyskalkulie empfindet die schulische Unterstützung als sehr qualitätvoll. Das Mädchen kommt mit den angebotenen erleichterten Aufgabenstellungen gut zurecht. Die
wöchentlich von der Schule angebotene Hausübungshilfe führt dazu, dass das Kind zu Hause nur mehr rund eine Stunde pro Tag arbeiten muss, was für familiäre Entspannung sorgt. Die Mutter
berichtet, dass seit der Zeit, wo ihre große, mit vergleichbaren Defiziten belastete Tochter zur Schule ging, das schulische Angebot um vieles besser geworden ist, äußert aber dennoch den Wunsch
nach mehr Ressourcen.
Die Eindrücke aus den Unterrichtsbesuchen zeichneten ein buntes Bild. Was besonders auffiel?
Die gegenseitige Akzeptanz der SchülerInnen war spürbar, vielfach war für uns nicht erkennbar, welche Kinder
in der Klasse besondere Bedürfnisse haben. Die schwer behinderten Kinder wurden zeitweise im selben Raum betreut, zeitweise außerhalb – der Raumwechsel erfolgte ohne großes Aufsehen. Dass
einzelne SchülerInnen für ihre Schularbeiten länger Zeit bekommen als andere, scheint selbstverständlich.
Wir sprachen mit einem Lehrer, der nur mehr ein paar Wochen bis zu seiner Pensionierung hatte – die Begeisterung für seine Arbeit war immer noch zu spüren.
Mich beeindruckte die Bandbreite in einer auf mathematisch hohem Niveau arbeitenden Abschlussklasse. Auch ein auf Grundschulniveau arbeitendes Mädchen lief wie selbstverständlich mit, bekam seine
auf sein Leistungsvermögen maßgeschneiderte Schularbeit zurück, verbesserte sie mit Hilfe ihrer Integrationslehrerin und erhielt anschließend ihre Wochenhausübung.
Die SchülerInnen mit Lernstörungen hatten, wie die übrigen Kinder, Schularbeiten aus dem gesamten Mittelschulstoff erhalten – allerdings mit vereinfachten Fragestellungen und Arbeitsaufträgen.
Sie verbesserten
sie selbstständig und individuell. Die Lehrerin hatte geschickt einen Verbesserungsplan samt passendem Material bereitgelegt, so dass alle gut vorankamen. Diejenigen, die nichts mehr zu
verbessern hatten, vertieften ein frisch erarbeitetes Kapitel. Die Lehrerin konnte sich in aller Ruhe um die Fragen einzelner Kinder kümmern.
Wir sahen auch Frontalunterricht in einer Klasse mit 8 Kindern, die bei uns SPF-Status hätten. Das zeigte, dass man an der Schule Interesse daran hatte, uns ehrlich über den Ist-Stand zu
informieren.
Die angenehme und ruhige Atmosphäre an der Schule spiegelte den respektvollen Umgang miteinander, den wir erleben durften.
* Barbara Gessmann-Wetzinger ist Vorstandsvorsitzende der Österreichischen Lehrer_innen Initiative (ÖLI-UG), Obfrau der ÖLI-UG Tirol, Mitglied der Bundesleitung der APS-Gewerkschaft, der
GÖD-Bundeskonferenz, der GÖD-ARGE-LehrerInnen, des ZA-APS-Tirol, der Landesleitung APS, des Landesvorstandes GÖD und unterrichtet an der NMS Dr. Posch
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