Buchbesprechung von Sabine Helmberger
Auf Einladung des TAK Liechtenstein diskutierte am 11.11.2018 Remo Largo, Schweizer Kinderarzt, Wachstums- und Entwicklungsforscher, aktuelle Inhalte seines 2017 erschienen Buchs
Remo H. Largo:
„Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können.“
S. FISCHER Verlag
2017
Hardcover/Taschenbuch 480 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-10-397274-0
Im Rahmen des ÖLI- UG-Seminars in Götzis konnten auch einige von uns dabei sein.
Ohne Polemik oder erhobenem Zeigefinger, dafür mit viel Humor präsentierte der 1943 in Winterthur geborene Remo Largo Erfahrungen und Ergebnisse seiner langjährigen Forschung, den sogenannten
„Zürcher Longitudinalstudien“. Seit den 50ern wurden dafür qualitative und quantitative Daten über die Entwicklung von über 700 Kindern bis ins Erwachsenenalter erhoben und seit den 70ern auch
von Remo Largo ausgewertet. Sie finden auch international als ausnehmend umfangreiche Forschungen Beachtung und stellen dem Dogma des optimierten Menschen eine erfrischende biologische Komponente
gegenüber.
Es gibt wenig extrem Begabte und wenig kaum Begabte – seit 300.000 Jahren
Wie eine Gaußsche Glockenkurve sind die Potenziale laut Remo in einer Gesellschaft verteilt. Es gibt wenig extrem begabte und wenig kaum begabte Menschen, dafür eine breite Mitte. Die
Möglichkeit, die eigenen Potentiale, aber auch Schwächen zu erkennen und zu akzeptieren und das Leben danach auszurichten, ist nach Ansicht Remo Largos zentrale Aufgabe der Gesellschaft, die
zufriedene und glückliche Menschen zum Ziel hat – oder haben sollte. Allerdings inkludiert das eben auch einen möglichen gesellschaftlichen „Abstieg“. Wenn etwa zwei Mathematiker_innen ein Kind
mit handwerklichen Potentialen haben, so ist die Gefahr, dass diese nicht gehoben werden. In einer Leistungs- und Optimierungsgesellschaft scheint für ein erfülltes Leben, vielleicht sogar
abseits von Matura oder Studium, kein Platz mehr.
Jeder Mensch ist unterschiedlich
Neben den unterschiedlichen Ausformungen der (sprachlichen, motorischen, etc.) Potentiale sind laut Largo auch die Bedürfnisse individuell verschieden ausgeprägt. Jemand kann ein wenig
ausgeprägtes Sexualbedürfnis haben, den Drang nach Selbstentfaltung oder einen starken Wunsch nach sozialer Anerkennung und Status verspüren. Vor allem das Bedürfnis nach existenzieller
Sicherheit und die Angst der Eltern – historisch erstmalig – „meine Kinder werden es nicht besser haben als ich“, gepaart mit Ein-Familien-Haushalten sind mitunter dafür verantwortlich, dass auf
Kinder oft enormer Leistungsdruck ausgeübt wird.
„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“
Die Rechnung „je mehr Input ich meinem Kind biete, desto mehr Output“ geht laut Largo so nicht auf.
Vielmehr fordert er eine optimale Umgebung, wo sich das Kind erproben kann und seine Potenziale entfalten kann. Largo plädiert beim Thema Wohnumfeld in einer Zeit der Kleinstfamilien für
Lebensgemeinschaften von 50-200 Menschen, wo es Formen von Abhängigkeiten gibt, und damit Kindern das Aufwachsen mit anderen Kindern – älteren und jüngeren – aber auch älteren Menschen ermöglicht
wird. Es gilt Anreize zu schaffen, um die entwicklungsinhärente Neugierde des Kindes zu fördern, Erfolge erleben zu können und Selbstwert zu entwickeln. Ein Kind will greifen lernen, gehen, etc.
Ermöglichen heißt hier das Zauberwort. Allerdings resigniert das Kind, sobald es merkt, dass immerzu Forderungen von den Eltern, Lehrer_ innen u.a. gestellt werden, die es nicht erfüllen kann.
Hier ist Mut gefordert, ein Blick auf aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen und bildungspolitische Diskussionen zeigt jedoch eines ganz deutlich: Wir werden wohl in nächster Zukunft – trotz
sämtlicher Studien und Ergebnisse – nicht aufhören weiter am Gras zu ziehen.
Hinterlasse einen Kommentar