additive Förderung (Rösch 2013). Kinder und Jugendliche mit nicht-deutscher Familiensprache erwerben die deutsche Sprache sowie Kompetenzen in anderen Unterrichtsgegenständen in integrativen
Fördermodellen nachhaltiger und besser als in fast ausschließlich additiver Förderung (Gogolin u.a. 2011), wie im Regierungsprogramm gefordert.
– Das Trennen des Sprachlernens vom Fachlernen erschwert den Spracherwerb und ist nicht wie im Regierungsprogramm angenommen förderlich (Gogolin u.a. 2011). Bildungssprachliche
Fähigkeiten in der Zweitsprache werden vielmehr vor allem dann ausgebildet, wenn der Sprachgebrauch in fachliche Kontexte eingebettet und mit dem Sachlernen verschränkt ist (u.a. Vollmer &
Thürmann 2010 und 2013). Die Teilnahme am Fachunterricht wird nach den Vorstellungen der Regierung mit einem Förderzeitraum von bis zu vier Semestern langfristig erschwert und nicht erleichtert
(Michalak u.a. 2015).
– Auch wenn mit 22.01.18 im Unterschied zum Regierungsprogramm anstelle „eigener Deutschklassen“ nun ab dem Schuljahr 2018/19 „Deutschförderklassen“ im Ausmaß von
15 beziehungsweise 20 Wochenstunden geplant sind, ist weiterhin von einer segregierenden Wirkung dieser Maßnahme auszugehen. Schüler*innen mit Deutschlern- bedarf sollen laut Bundesminister Heinz
Faßmann nicht einer Regelklasse mit zusätzlicher Deutschförderung, sondern eigenen „Deutschförderklassen“ zugeordnet werden. Es liegt seitens des Bundesministeriums bisher kein Konzept vor, wie
trotz der Einrichtung von „Deutschförderklassen“ mit hoher Wochenstundenanzahl der soziale Zusammenhalt in der Schule gewährleistet werden kann.
– Sprache wird wesentlich durch soziale Interaktion mit Sprecher*innen der Zielsprache erworben. Diese entsteht vor allem dadurch, dass Schüler*innen dazugehören, sich
austauschen, miteinander spielen oder lernen wollen. Segregativer Förderunterricht entzieht dieser positiven Sprachlernmotivation ihre Grundlage.
– Schüler*innen mit anderen Erstsprachen als Deutsch bringen unterschiedliche Voraussetzungen und Sprachkenntnisse mit. Diese Kenntnisse und Ressourcen werden durch die von der
Regierung vorgesehenen Fördermaßnahmen nicht berücksichtigt, da Schüler*innen lediglich im Hinblick auf ihre als „Defizite“ bezeichnete Sprachlernbedarfe im Deutschen wahrgenommen werden.
– Ein nachhaltiger Ansatz der Sprachförderung für die Aneignung der Bildungssprache Deutsch verlangt ein Gesamtkonzept, das integrative Förderung und additive Maßnahmen
inkludiert – mit deutlichem Schwerpunkt auf integrativer Sprachförderung. In der Pressekonferenz vom 22.01.18 wird betont, dass es neben der additiven Förderung in den vorgesehenen
„Deutschförderklassen“ zu einer schnelleren integrativen Förderung im Regelunterricht kommen soll. Offen bleibt jedoch, wie der Übertritt in den Regelunterricht aussehen kann, ob es abgesehen von
den geplanten sechs Förderstunden weitere Unterstützung geben soll – besonders wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Entwicklung der Bildungssprache fünf bis acht Jahre dauert (Cummins
1997) – und wie im Sinne der Durchgängigen Sprachbildung (Gogolin u.a. 2011) Sprache im Fachlernprozess berücksichtigt wird.
II. Zur Maßnahme „Deutsch vor Schuleintritt“ und
zum Nachweis über „ausreichende Deutschkenntnisse“ durch Sprachstandserhebungen vor dem Schuleintritt
Die Forderung „Deutsch vor Schuleintritt“ und „das ausreichende Beherrschen der deutschen Sprache als Schulreifekriterium“ werden den pädagogischen Möglich- keiten des Umgangs mit
Mehrsprachigkeit nicht gerecht und entsprechen nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Sprachentwicklung und Sprachförderung von Kindern. Die ausschließliche Betonung des Erwerbs der
Bildungssprache Deutsch ignoriert, wie wichtig es im Sinne der Komplexität von Sprachenlernen ist, das gesamte sprachliche Repertoire von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen.
– Es bleibt völlig unklar, wie der Nachweis „ausreichender“ Deutschkenntnisse und die Förderung konkret erfolgen sollen. Zudem wird nicht definiert, was mit „ausreichenden“
Deutschkenntnissen gemeint ist. Der zu erreichende Standard bleibt somit unspezifisch und verdeutlicht folglich die fehlende wissenschaftliche und argumentative Grundlage dieser Forderung im
Bildungsprogramm.
– Die Zurückstufung von Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache zeigt bereits in einer Studie aus den späten 1990er Jahren hohe (Langzeit-)Risiken für diese Schüler*innen
(Gomolla & Radtke 2000 und 2007). Überdies machen Studien in Österreich (Eder & Dämon 2010) und Deutschland deutlich, „dass sich weder kurz- noch langfristige Fördereffekte durch das
zusätzliche Jahr in der Vorschulstufe feststellen ließen“ (Faust 2013 zitiert nach Herzog-Punzenberger 2017, 4). Zusätzlich verdeutlichen aktuelle Studien (Steiner u.a. 2016), dass es einen
Zusammenhang zwischen dem Anteil von Bildungs- abbrecher*innen und der Gruppe der zurückgestellten Schüler*innen gibt.
– Die bisherigen Forschungsergebnisse sprechen deutlich gegen eine Zurückstellung von Kindern, die laut dem Regierungsprogramm auf die Sprachstandserhebungen folgen soll.
III. Zur Zieldefinition „Bewährtes, differenziertes Schulsystem erhalten und ausbauen“
Das „differenzierte Schulsystem“, das bereits im Alter von zehn Jahren eine frühe Trennung von Kindern vornimmt, hat sich nicht bewährt. Vielmehr verstärkt es die Bildungsbenachteiligung von
Kindern aus sozial und ökonomisch prekären Verhältnissen. Dieses System zu erhalten und gar auszubauen, erhält bestehende institutionelle Diskriminierung und fördert
Bildungsungerechtigkeit.
– Positive Effekte einer frühen Selektion können nicht wissenschaftlich belegt werden, es zeigen sich im Gegenteil langfristig negative Auswirkungen (Herzog-Punzenberger 2017;
Gomolla & Radtke 2007). Untersuchungen in inklusiven Schulsystemen (beispielsweise Südtirol oder Kanada) weisen hingegen eine höhere Chancengerechtigkeit bei gleichzeitig hohem Bildungsniveau
aus (Herzog-Punzenberger 2017, 15).
– Der Bildungshintergrund der Eltern sowie die Familiensprache Deutsch sind in Österreich entscheidender für den Übergang zu einer höheren Schulform als in anderen Ländern.
Nationale (Bildungsstandards) und internationale Schulleistungstests (PIRLS, TIMSS oder PISA) verdeutlichen die ungleichen Chancen beim Zugang zu Bildungsinstitutionen.
– In den OECD-Ländern gilt ein Bildungssystem als erfolgreich, wenn Jugendliche unabhängig von der Herkunft an möglichst hohe Kompetenzniveaus herangeführt werden können (Suchań
& Breit 2016). Österreich ist unter den 25 untersuchten Staaten der letzten PISA-Studie 2015 das Land mit dem größten Leistungsabstand im Leseverständnis zwischen Jugendlichen mit und ohne
„Migrationshintergrund“ (Suchań & Breit 2016).
IV. Zur Diskriminierung durch Bildungsbarrieren
Insgesamt verstärkt das Bildungsprogramm der Regierung die institutionelle Diskrimi- nierung von Kindern und Jugendlichen mit nicht-deutscher Familiensprache. Der Vergleich internationaler
Schulleistungsstudien zeigt, dass es in Österreich für den Schulerfolg überaus bedeutend ist, ob Kinder und Jugendliche einen „Migrationshintergrund“ haben (Suchań & Breit 2016). Jugendliche
mit „Migrationshintergrund“ erreichen im Vergleich zu Jugendlichen ohne „Migrationshintergrund“ in Österreich ein wesentlich geringeres Kompetenzniveau in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft
(Bergmüller & Herzog- Punzenberger 2012; Salchegger, Herzog-Punzenberger & Filzmoser 2015).
Das Bildungsprogramm steht mit dem Ausbau der Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit nicht-deutschen Erstsprachen im Widerspruch zu Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Bildung“. Bildung ist Grundvoraussetzung für soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Der Bildungsagenda 2030 zufolge ist es Ziel, „bis 2030 für alle
Menschen eine inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen sicher[zu]stellen“ (UNESCO 2018).
V. Forderungen
Auf der Basis nationaler und internationaler Forschungsergebnisse fordern wir zur Verbesserung der schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen im Sinne eines gerechteren und integrativen
Bildungssystems, und folglich einer sich ihrer Verantwortung und Potentiale bewussten Gesellschaft, folgende Maßnahmen:
– Die sprachliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Deutschen muss langfristig begleitet und gefördert werden. Dafür ist ein Gesamtkonzept für durchgängige sprachliche
Bildung und Sprachförderung vom Kindergarten bis zum Ende der Sekundarstufe II zu entwickeln und umzusetzen, das integrative und additive Fördermaßnahmen auf Grundlage wissenschaftlicher
Erkenntnisse verschränkt und Schüler*innen möglichst rasch vollständig in den Klassenverband integriert.
– Deutschkenntnisse dürfen kein Ausschlusskriterium aus Bildungsprozessen sein – der Zugang zum vollständigen Bildungsangebot in einer Schule darf nicht verwehrt werden, weil
Schüler*innen Deutsch noch nicht im geforderten Ausmaß beherrschen.
– Für den erfolgreichen Erwerb der Bildungssprache Deutsch ist es sinnvoll, die individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in angemessener Form zu berücksichtigen.
Weiter muss Sprachförderung die Tatsache berücksichtigen, dass Mehrsprachigkeit in der Schule der Normalzustand und nicht die Ausnahme ist.
– Im Unterricht soll auf das gesamte Sprachenrepertoire der Schüler*innen zurückgegriffen und dieses soll als Sprachlernressource genutzt werden.
– Der Sprachunterricht ist mit dem Fachunterricht zu verschränken, um sowohl sprachliche als auch fachliche Lernprozesse zu ermöglichen und zu intensivieren.
– Die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte im Umgang mit Mehrsprachigkeit und Diversität, in der Förderung von Deutsch als Zweitsprache sowie im Hinblick auf einen
durchgängigen sprachsensiblen Unterricht muss verstärkt und auf akademischem Niveau sichergestellt werden.
– Kinder und Jugendliche sollten möglichst lange in qualitativ hochwertigen Ganztagsformen gemeinsam die Schule besuchen.
– Wissenschaftliche Forschung zu sprachlicher Bildung vom Kindergarten bis zur Universität muss verstärkt gefördert und ausgebaut werden, um die Grundlagen für zielführende
bildungspolitische Maßnahmen zu schaffen.
25. Jänner 2018
Federführend:
Beatrice Müller, Institut für Germanistik der Universität Wien Hannes Schweiger, Institut für Germanistik der Universität Wien
Beteiligte:
Muhammed Akbulut, Fachdidaktikzentrum der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz Bora Bushati, Fachdidaktikzentrum der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität
Graz Monika Dannerer, Institut für Germanistik der Universität Innsbruck
İnci Dirim, Institut für Germanistik der Universität Wien
Michal Dvorecky, Institut für Germanistik der Universität Wien
Christopher Ebner, Fachdidaktikzentrum der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz Ulrike Eder, Institut für Germanistik der Universität Wien
Andrea Ender, Institut für Germanistik der Universität Salzburg Renate Faistauer, Institut für Germanistik der Universität Wien Fatma Fırat, Institut für Germanistik der Universität Wien
Magdalena Knappik, Institut für Germanistik der Universität Wien Hans-Jürgen Krumm, Institut für Germanistik der Universität Wien
Lisa Niederdorfer, Fachdidaktikzentrum der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz Doris Pokitsch, Institut für Germanistik der Universität Wien
Stephan Schicker, Fachdidaktikzentrum der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz
Sabine Schmölzer-Eibinger, Fachdidaktikzentrum der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz Anke Sennema, Institut für Germanistik der Universität Wien
Gülay Şen, Institut für Germanistik der Universität Wien Eva Strauß, Institut für Germanistik der Universität Wien
Quellen
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Gogolin, Ingrid; Dirim, İnci; Klinger, Thorsten; Lange, Imke; Lengyel, Drorit; Michel, Ute; Neumann, Ursula; Reich, Hans H.; Roth, Hans-Joachim; Schwippert,
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Ahrenholz, Bernt (Hg.): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache. Tübingen: Narr, S. 107-132.
Vollmer, Helmut J. & Thürmann, Eike (2013): Sprachbildung und Bildungssprache als Aufgabe aller Fächer der Regelschule. In: Becker-Mrotzek, Michael;
Schramm, Karen; Thürmann, Eike; Vollmer, Helmut J. (Hg.): Sprache im Fach. Sprachliches und fachliches Lernen. Münster: Waxmann, S. 41-58.
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