Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze
Die Gedichte
160 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
Piper 2015
€ 20,60
EAN 978-3-492-05716-5
Hannah Arendt. Berühmt wurde sie durch ihre Analysen und glasklaren Formulierungen, ihre eindeutige politische Haltung und dass sie auch Konflikte nicht scheute. Sie wurde 1906
in Hannover geboren und starb 1975 in N.Y.
2012 wurden im neuen Wiener Stadtteil Seestadt Aspern eine Parkanlage (Hannah-Arendt-Park) sowie eine Verkehrsfläche (Hannah-Arendt-Platz) benannt.
2015 erschien zum ersten Mal ein Lyrikband von Arendt mit 71 Gedichten. Sie, die Bücher und Essays verfasst hatte, hatte auch Gedichte geschrieben? Das macht neugierig. Welche Art von
Gedichten sind das?
„Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten“. Von vielen wird sie als Philosophin bezeichnet. Doch diese Zuschreibung
lehnte sie ab.
Im Interview (am 28.10.1964 im rbb Günter Gaus[1]) sagte sie damals: „Mein Beruf — wenn man davon überhaupt noch sprechen kann — ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als
Philosophin. Ich glaube auch nicht, daß ich in den Kreis der Philosophen aufgenommen worden bin, wie Sie freundlicherweise meinen. Aber wenn wir auf die andere Frage zu sprechen kommen, die Sie
in der Vorbemerkung anschnitten: Sie sagen, es ist Iandläufig eine männliche Beschäftigung. Das braucht ja nicht eine männliche Beschäftigung zu bleiben! Es könnte ja durchaus sein, daß eine Frau
einmal eine Philosophin sein wird.“
Gaus: „Ich halte Sie für eine Philosophin.“
Arendt: „Ja, also dagegen kann ich nichts machen, aber meine Meinung ist, daß ich keine Philosophin bin. Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie doch endgültig Valet gesagt. Ich habe
Philosophie studiert, wie Sie wissen, aber das besagt ja noch nicht, daß ich dabei geblieben bin.“
Hannah Arendt hatte bereits als Kind einen starken Bezug zu Gedichten und Balladen. Wie ihr Nachlass zeigt, schrieb sie auch Gedichte, die nun vollständig erschienen. Das schmale
Buch enthält editorische Bemerkungen und Informationen zu bisherigen Druckfassungen. Die Überlieferungs- und Druckgeschichte der einzelnen Gedichte wurde von Anne Berrheau erstellt.
Irmela von der Lühe, die bedauerlicherweise keine gendergerechte Sprache verwendet, stellt die Gedichte in Bezug zur Autorin: „Die systematischen Versuche des Verstehens, von denen alle
Schriften Hannah Arendts zeugen, vollziehen sich als Akte eines Denkens, die aus dem Bruch mit der Tradition entspringen und doch nach Möglichkeiten des Neubeginns und der Fortführung des
politischen Denkens suchen.“ Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Verbindung von Denken und Dichten, die Verbindung von Wissenschaft und Kunst.
Die Gedichte entstanden über den langen Zeitraum 1923 bis 1961 (Beobachterin am Eichmannprozess) und sind auch von jahrelangen Pausen geprägt. Ein Gedicht zum Trost, ein anderes über einen Traum,
eines zum Gedenken an Walter Benjamin, an die Freunde, zu Erich Neumanns Tod und viele ohne Titel. Die Gedichte befinden sich in Briefen oder in ihrem von 1950 bis 1973 geführten „Denktagebuch“.
An anderer Stelle sagt Arendt zu Gauss im Interview: „Worauf es mir ankommt, ist der Denkprozeß selber. Wenn ich das habe, bin ich persönlich ganz zufrieden. Wenn es mir dann gelingt, es im
Schreiben adäquat auszudrücken. bin ich auch wieder zufrieden. – Jetzt fragen Sie nach der Wirkung. Es ist das — wenn ich ironisch werden darf — eine männliche Frage. Männer wollen immer
furchtbar gern wirken; aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen, im selben Sinne, wie ich verstanden habe — dann
gibt mir das eine Befriedigung, wie ein Heimatgefühl.“
Auch wenn ihre Lyrik nach literaturwissenschaftlichem Ermessen nicht ihre Begabungsstärke war, so gibt sie doch einen neuen Einblick in ihr anderes Denken und Empfinden. Arendt hatte
diese nicht zur Veröffentlichung vorgesehen – oder doch?
Bettina Hartz fragt in ihrer Rezension[2] , ob mit diesem Lyrikband Arendt ein Gefallen getan wurde. Diese Frage muss unbeantwortet bleiben. Doch ist nicht gerade eine unbestimmte Enttäuschung
nach dem Lesen der Gedichte ein Impuls, dieser Enttäuschung selbst nachzugehen?
Welche Funktion hatte das Gedichteschreiben für Arendt? Offenbar eine andere als das Schreiben ihre anderen Texte. Diese schrieb sie erst dann auf, wenn sie die Gedanken fertig gedacht hatte. Die
Schreibprozesse, so vermute ich, waren so unterschiedlich wie die Ergebnisse es sind. Sie könnten möglicherweise in dem Sinne verstanden werden, dass sie so verbinden konnte, was sie verbunden
wissen wollte.
(39) Ohne Titel
Die Gedanken kommen zu mir,
ich bin ihnen nicht mehr fremd.
Ich wachse ihnen als Stätte zu
wie ein gepflügtes Feld.
Rezension: Ilse M. Seifried
Mai 2020
[1] https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah.html
[2] https://www.fixpoetry.com/autoren/literatur/feuilleton/bettina-hartz
Coverabbildung: https://www.piper.de/buecher/ich-selbst-auch-ich-tanze-isbn-978-3-492-05716-5
Hinterlasse einen Kommentar