512 Seiten
dtv Verlag 2025
ISBN 978-3-423-28527-8
€ 26,50
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Abb. https://www.dtv.de/buch/szenario-28527
Die Autorin Dr.in Florence Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin und Direktorin des Forschungsbereich am NATO Defense College in Rom. Sie berät Regierungen und internationale Organisationen anhand von Zukunftsszenarien und Trendanalysen. Oberhalb des Impressums ist zu lesen: „Die geäußerten Meinungen geben die Ansichten der Autorin wieder, nicht die ihres Arbeitgebers.“
Der Begriff Szenario kommt ursprünglich aus der Commedia dell`Arte, dem italienischen Improvisationstheater des 17. Und 18. Jhts. Es geht darum, die großen Linien und Zusammenhänge zu erkennen und mit ihnen zu spielen. Damit werden drei Ziele erreicht: scheinbar unendliche Möglichkeiten sind reduziert, eigener Handlungsspielraum wird bewusst und Schockmomente sind reduziert, wenn tatsächlich eines der Szenarien eintrifft und ermöglicht damit ein Gefühl der Kontrolle. Das Konzept geht auf Edward Packard 1976 zurück.
Im Klappentext ist zu lesen. „Die Zukunft erscheint offener, furchteinflößender als vor wenigen Jahren.“ Dies kann jede Person für sich selbst überprüfen, womit bereits der Reflexionprozess der Leser:innen beginnt.
Die Widmung, von mir übersetzt, lautet: „Für Mama, die weder schwierige Entscheidungen noch die Blicke anderer noch sich selbst fürchtet.“ Dieser Satz ermutigt und gibt Hoffnung, finde ich.
Das alles macht neugierig, die 512 Seiten zu lesen. Inhaltsverzeichnis gibt es keines. Der Text ist in Auftakt und anschließend 101 Abschnitte gegliedert. Ihnen folgen Anmerkungen. Eine originelle Herangehensweise und Umsetzung, um das Ziel zu erreichen, dass die Leser:innen zu aktiv Mitdenkenden mit Entscheidungsmacht werden.
Gaubs Paradigma lautet: „Zukunft ist das Ergebnis von nachvollziehbaren Entwicklungen und Entscheidungen, nicht ein mystisches Zusammenspiel unergründlicher Mechanismen.“ Damit stimme ich nur teilweise überein, wenn es den Blick in die Vergangenheit und auch die Zukunft betrifft. Denn damit werden unvorhersehbare Zufälle, die per se unergründlich sind, ausgeschlossen, und behauptet, dass Leben rein rational ist. Zufälle sind nachweislich für Wendungen verantwortlich. Warum lässt sie beide nicht nebeneinanderstehen und fokussiert nur auf Nachvollziehbarkeit? frage ich mich. Denn auch wenn ich Zufälle akzeptiere, macht mich diese Haltung noch lange nicht zu einer Zuschauerin, lässt mich dennoch eine Handelnde bleiben.
Weiters führt Gaub an, dass nur 25% der Deutschen glauben, durch Leistung sozial aufsteigen zu können (in Schweden sind das 70%) und verbindet diese Zahlen mit dem Mangel an Möglichkeitsvorstellungen. Das ist nur eine Seite. Die andere Seite ist die Realität, wie Soziolog:innen belegen: Bildung wird vererbt, womit Aufstiegschancen schwinden und als Quereinsteiger:i in die Eliteklasse zu gelangen, ist, wie Michael Hartmann mehrfach nachwies, meist nur durch Heirat möglich. Deswegen in einen Fatalismus zu verfallen, kann eine Reaktion sein, eine andere, politisch aktiv zu werden, um die Gesellschaft gerechter zu gestalten. Schade, dass sie dies nicht erwähnt.
Die Zukunft ist ungewiss. Niemand weiß, was wirklich wie kommt und ob die gemachten Pläne aufgehen. Mir fallen Prophet:innen wie Mirjam, Debora und Hulda in der Tora, Hanna in der Bibel, Kassandra, Sibylle und Dione in der Antike, die in Zukunft schauen. Bis in die Gegenwart gibt es politische Vorhersagen. Doch eigentlich geht es allen weniger darum, die Zukunft vorherzusagen, als sich zur Autorität in einer bestimmten Situation zu machen, sich die Macht der Worte anzueignen und so Einfluss auf das Geschehen und somit auf die Zukunft zu nehmen.
Bereits mit ihren ersten Sätzen gelingt es Gaub, mich zum Denken, Handeln und Überprüfen zu bringen und ich hoffe, viele andere Menschen ebenso, denn das ist ein Ziel der Autorin: Eigenmächtigkeit zu fördern. Auch die nachfolgenden 101 Abschnitte bieten unzählige Reflexionsmöglichkeiten und vielschichtiges Lernen.
Die Autorin recherchierte, was bis 2033 als gesichert gilt. Aufgrund dieser kann jede:r Lesende durch eigene Entscheidungen die Zukunft gestalten. In diesem Spiel verfüge ich über keine Exekutivgewalt, keine Truppen, oder Satellitenflotte, sondern bedenke Muster, Daten Erfahrungen und entdecke ein Gefühl für Dynamik und die Fragen: Was wäre, wenn …? Was ist die Ursache von …?
Bisherige Assoziationen, Erfahrungen, Annahmen und Denkgewohnheiten werden durch viele Aha-Erlebnissen bereichert. Nicht erst zum Schluss ist jeder Person bewusst, wieviel mehr Handlungsoptionen es gibt als vermutet. Sich auf diesen Text einzulassen, vergrößert den Denkhorizont und das eigene Potential differenzierter diskutieren und handeln zu können.
Interessant ist es, am Ende zu sehen, wie jede.r die Zukunft gerahmt hat, so dass sich auch andere darin zurechtfinden, und dann entscheiden. Die Autorin schließt den Auftakt ab mit den Worten: „Sie arbeiten nicht für eine Nation, sondern für die Zukunft an sich. Sie sind am Zug.“ Das irritiert mich, denn die Zukunft an sich gibt es nicht, sie ist ein Abstraktum, die jede Person mit eigenen idealen Vorstellungen von Identität füllt.
Dieses Spiel ist nicht nur spannend und interessant, es machte mir Spaß! Dass Irrationales und paradoxe Interventionen nicht wie im echten Leben, in realer Politik, miteinfließen, ist klar, doch ein expliziter Hinweis auf diese Faktoren fehlte mir. Ich komme ans Ziel 101. Auf anderen Wegen ist dieses ebenso zu erreichen, deshalb regt das Buch auch zur Kommunikation mit anderen an. Welchen Weg nahmen diese? Welche Entscheidungsmotive hatten sie? Die Antwortsuche führt zu wirklich interessanten und aufschlussreichen Diskussionen und Erkenntnissen.
Dass keine gendergerechte Sprache verwendet wurde, ist ein weiterer Kritikpunkt. Männliche Sprache fordert, Frauen mitzudenken und macht diese somit unsichtbar. Dies ist ein Widerspruch, weil die Themen mündige Staatsbürger:innen, Zukunft und Frieden ist. Frieden gibt es nur, wenn Gerechtigkeit und somit auch Gendergerechtigkeit auf allen Ebenen, Realität ist.
Gaubs Buch Szenario ist ein empfehlenswertes Buch für alle Maturant:innen, Lehrende, Eltern und an der Gegenwart und Zukunft Interessierte, gerade, weil es kein Patentrezept anbietet und spielerisch zum Selber- und Weiterdenken anregt.
Dez. 2025
Rezension
Ilse M. Seifried, MA
https://www.i-m-seifried.at

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