
Heinrichs, Hans-Jürgen:
Schreiben ist das bessere Leben
Gespräche mit Schriftstellern: Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Gerhard Roth, Georges-Arthur Goldschmidt, Paul Nizon, Nathalie Sarraute, E. M. Cioran, Jorge Semprun, Breyten Breytenbach,
Hans Werner Henze
315 Seiten
Verlag Antje Kunstmann, 2006
Print: € 22,- ISBN: 3888974380
e-book Kindle € 19,99 – ISBN: 978-3-95614-015-0
Auch wenn das Buch bereits 2006 erschien, so ist es nach wie vor eines, das interessant zu lesen ist. Die Kontinuität ist dadurch gegeben, dass stets Heinrichs der Interviewpartner
ist.
Seine
getroffene Auswahl der Personen zeigt ein großes Spektrum: die österreichischen AutorInnen Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker und Gerhard Roth, den Deutschen Georges-Arthur Goldschmidt, den Schweizer Paul
Nizon, die Französin mit russischen Wurzeln Nathalie Sarraute, den Rumänen E. M. Cioran, den Spanier Jorge Semprun, den Südafrikaner Breyten Breytenbach sowie den Deutschen Komponist Hans Werner
Henze.
In seiner Einleitung schreibt Heinrichs:
„Diesen Raum der Faszination am Schreiben und am Geschriebenen, diese in Worten vollzogenen Ortswechsel und Prozesse des Sich-Wandelns
wollen die mit zehn ausgewählten Autoren geführten Gespräche sinnlich und intellektuell in Szene setzen.“ Und endet: „Diese Entdeckungsreise überschreitet bei weitem die Grenzen des individuellen
Lebens und transzendiert das am eigenen Leib Erfahrene. Dabei hat der Schriftsteller zeitweise die Möglichkeit, mit sich so umzugehen, wie er es will, und nicht, wie es ihm sein Leben
vorschreiben mag – Schreiben ist eben das bessere Leben.“
Er selbst gibt also dem Buch seinen Titel.
Zur
Einstimmung gibt es ein Foto oder Handschriftliches vor dem Interview und auch eine situative Beschreibung der Begegnungen. In den Interviews wird sowohl sehr Persönliches erzählt und auch werden
theoretische Ansätze erfragt und diskutiert. Diese kreativen Menschen (7 Männer und leider nur 3 Frauen) und ihr Schreibverständnis und Schreiberleben auf diese Art näher kennen zu lernen, ist
eine inspirierende Erfahrung. Unerwartetes auf jeder Seite und Anregung, sich nochmals intensiv mit den Werken der Interviewten auseinanderzusetzen.
Im
Folgenden nun von mir willkürliche gewählte Zitate. Sie sollen die Bandbreite zeigen und neugierig auf das Buch und die Menschen machen.
JELINEK: Die Figuren wachsen mir auch nicht in dem Sinne ans Herz, daß ich mit ihnen leben würde. Die Figuren sind nur Kleiderbügel, auf die ich die Sprache hänge.
MAYRÖCKER: Es ist ein unglaubliches Erlebnis, es ist eine Neugierde, es ist eine Sucht. Man will dorthin, wo man noch nicht weiß, wo es ist. Es
ist wirklich eine Sucht.
ROTH: Mein
Vorsatz war immer, aus mir selbst zu schöpfen und mich auszudrücken und das auszudrücken, was mir wichtig ist.
GOLDSCHMIDT: Ja, bei mir ist es aber diese innere, ständige Konfrontation der beiden Sprachen, meiner beiden, ich würde sagen, Muttersprachen.
Ich habe zwei Muttersprachen, das Französische und das Deutsche, oder umgekehrt. Das sind wirklich meine körperlichen Lebenssprachen. Ich möchte gerne wissen, in welcher Sprache ich sterben
werde, wie Chamisso, der dann nur noch französisch sprach, als er starb. Leider werde ich das eben nicht wissen, das ist ja der Witz an der Sache. Aber das wäre für mich die entscheidende Frage
zu wissen, in welcher Sprache ich sterben werde.
NIZON: Ich bin eigentlich meine
eigene Fiktion, so wie meine Plätze, Lebensschauplätze und Paris fiktionale Räume meiner Existenz sind. Diese Dinge sind inzwischen derartig zusammengewachsen, wie das früher nicht der Fall war.
Zur Therapie kann ich nur sagen: wenn ich nicht schreibe, werde ich krank.
BREYTENBACH. Das Leben ist wahrscheinlich eine Schreibreise. Man beschreibt sein Leben wie eine angetretene Reise. Nicht aus egozentrischen Gründen, sondern weil das Wesentliche des
Schaffensaktes ein Akt der Ausdehnung des Bewußtseins ist.
SARRAUTE: Ja, ich spreche immer alle Texte, ich bearbeite sie, indem ich sie laut vorlese. Ich mache das auch mit den Texten der anderen.
CIORAN: Und alles, was ich geschrieben habe, war nur für die Befreiung oder um die Illusion der Befreiung, der Erleichterung zu haben. Das ist
der Grund, warum ich geschrieben habe – warum sonst hätte ich schreiben müssen?
SEMPRUN: Meine Erfahrung ist: Je mehr ich schreibe, desto mehr Gedächtnis gibt es. Aber, vielleicht ist dieses Gedächtnis, diese Vergangenheit
auch dichter und schwieriger zu erfassen und zu bändigen, sie ans Licht kommen zu lassen.
HENZE: Das
Problem ist, wie bekommt man es aufs Papier? Man kann eine vollständige Vorstellung haben, und dann weiß man nicht ganz genau, wie man sie aufschreiben soll. Das ist sehr qualvoll.
Abschließend noch
eine Bemerkung zu Gender. Dieser Aspekt fehlt gänzlich – sowohl inhaltlich als auch formal. Doch auch das ist eine Aussage.
Für wen aller warum (nicht) Schreiben das bessere Leben ist, kann hier nachgelesen und selber reflektiert werden.
Rezension
Ilse M. Seifried
http://www.das-labyrinth.at/
https://www.i-m-seifried.at/
Aug. 2019
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