Wege aus der
Angst von Gerald Hüther, Jahrgang 1951, Neurobiologe – ein Buch für unsere Gegenwart?
Nachweislich[1] stiegen die psychischen Probleme infolge der Corona-Krise. Angststörungen erhöhten sich von 5% auf 19%.
Auch Kinder sind davon betroffen. „Zudem schreibt die Schulärztin, dass psychiatrisch vorbelastete Kinder und Jugendliche, bei denen das stabilisierend wirkende Umfeld der Schule plötzlich
wegfiel, nur schwer in den Schulalltag zurückfinden. Das Hin und Her zwischen Schultagen und Betreuungstagen führe zu einer Destabilisierung: Vor allem im Volksschulbereich beklagen auch Lehrer
und Lehrerinnen, dass bei einem erheblichen Prozentsatz der Kinder die Fähigkeit zur Konzentration durch das instabile Lernumfeld deutlich leidet und man von einem Regelunterricht weit entfernt
ist.“[2]
Das neu erschienen Buch des 1951 geborenen Neurobiologen Hüther passt in die Zeit, denn es trägt den Titel: Wege aus der Angst. Vielleicht beinhaltet es für Lehrer*innen, Eltern und alle anderen
Hilfreiches?
Auf der ersten Seite der Einleitung ist in der Fußnote zu lesen: „Ich weiß, dass es zwei oder sogar mehr Geschlechter gibt. Der besseren Lesbarkeit wegen verwende ich mal die männliche und mal
die weibliche Form.“ Das lässt mich innehalten. Warum verwendet er nicht Leser*innen und sie*er und spräche somit alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht an? Das macht mich neugierig und ich
analysiere seine Sprache: Im ersten Satz steht „er und sie“. Dann wird der Plural verwendet (wir Menschen) und sechs Mal die männliche Form. Keine einzige weibliche Sprachform in der mehr als
fünfseitigen Einleitung. Ausgewogen ist das eindeutig nicht. Es enttäuscht auch, weil er als Neurobiologie sehr wohl weiß, dass sich bei männlichen Sprachformen männliche Bilder einstellen.
Was fiel mir noch auf? Nicht belegte Aussagen. Zum Beispiel: „Am weitesten verbreitet ist die Vorstellung, wir könnten alles, was uns bedroht, durch geeignete Maßnahmen unter Kontrolle bringen.“
Von welcher Mehrheit spricht Hüther da? Warum werde ich sprachlich vereinnahmt? Diese patriarchale Denkrichtung, die seit Beginn der Wissenschaft von Männern verbreitet wurde, stieß seit Beginn
auf nicht nur weiblichen Widerstand und sollte nicht undifferenziert und somit plakativ in den Raum gestellt werden.
Weiters will Hüther mit mir als Lesende „gemeinsam herausarbeiten, was uns wirklich Angst macht“. Als Pädagogin weiß ich zu unterscheiden zwischen Monolog, Reflexionsangebote, Interaktion und
Teamarbeit. Sein unpräzises Denken und somit Schreiben erstaunt mich auch an dieser Stelle.
Wichtigster Grund, dieses Buch zu schreiben, war für ihn, wie er offen zugibt, dass er es einfach nicht erträgt, „dass noch immer so viele Menschen glauben, und sich bis heute von anderen
einreden lassen, dass es darauf ankäme, ihre Ängste zu überwinden …..“
Ich zähle nun auf, was ich an seinem Buch nicht ertrage: Z. B., dass er sprachlich nicht differenziert zwischen Angst und Frucht. Er vertritt die Meinung, dass es die Vorstellung der Menschen
war, dass das Virus eine lebensbedrohliche Erkrankung auslöse, die Angst auslöste. Ich sehe das anders. Denn ich hörte kein einziges Mal jemanden diese Angst vor dem Virus aussprechen. Es waren
die Maßnahmen, die Angst auslösten: sich nicht frei bewegen und Menschen nicht besuchen zu können, zu wenig Nahrung oder Toilettenpapier und Schutzmasken zur Verfügung zu haben u.a.m. Vor allem
die Bilder aus Spanien und Italien, die den Mangel an Kapazitäten in Spitälern zeigten, weswegen Patient*innen nicht behandelt werden konnten und es zu so vielen Toten und Massenbegräbnissen kam,
lösten Grauen und Angst aus. Der Tod kommt, früher oder später. Die Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall zu sterben oder wegen Luftverschmutzung etc. sind wesentlich höher als durch den Virus.
Die Angst hält sich bei der Mehrheit (behaupte ich als Erfahrungswert) in Grenzen, selbst krank zu werden. Aus Vernunft wurden/werden Hygienemaßnahmen eingehalten. Es ist die Angst, arbeitslos zu
werden bzw. Konkurs anmelden zu müssen, die um sich greift.
Obwohl der Buchtitel lautet Wege aus der Angst gibt es dazu nur ein Kapitel, das sich mit dieser Perspektive mit Schwerpunkt Vertrauen entwickeln beschäftigt. In den anderen Kapiteln erklärt er,
wie Angst entsteht, sich im Gehirn zeigt, welche Funktion sie hat und bringt Beispiele für alles, was Angst machen kann.
Das auf sechs Seiten zusammengefasste Fazit, das er überschreibt mit: Was ich mir wünsche beginnt mit: „Wir leben in einer Welt, in der vieles nicht so ist, wie es sein sollte.“ Wenn er dann
schreibt: „Liebevoll zu sich selbst zu sein, ist doch nicht so schwer.“, wird offenkundig, dass er darüber noch nie mit Psycholog*innen und Therapeut*innen gesprochen hat. Gehirnforschung ist
gut, diese interdisziplinär zu denken, wäre besser.
Aus all diesen Gründen empfehle ich das Buch von Verena Kast: Vom Sinn der Angst. Wie Ängste sich festsetzen und wie sie sich verwandeln lassen. 7. Auflage. Herder 2007.
Einen gänzlich anderen Weg geht der Mentalist und Hypnosetrainer Jan Becker in seinem fundierten und lesenswerten Buch Das Geheimnis der Intuition. Piper, 8. Auflage 2017. In diesem bietet er ein
konkretes und umfangreiches Selbstvertrauens-Trainingsprogramm an.
All jenen, die gar nichts über Ängste lesen jedoch Vertrauen entwickeln möchten, empfehle ich ein Labyrinth zu begehen.
Abschließend nochmals auf Hüthers Buch zurückkommend: Auch wenn ich es nicht empfehlenswert finde, viele Menschen mögen seine bisherigen Vorträge und Bücher, seinen Stil, und finden seine Worte
sowohl beruhigend als auch bestärkend. Für all jene wird auch dieses Buch wieder ein gelungenes sein.
Gerald Hüther: Wege aus der Angst – Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen
Hardcover
128 Seiten
€ 21,-
ISBN 978-3-525-45387-2
Oktober 2020
Rezension
Ilse M. Seifried
[1] Studie der Donau-Universität Krems vom 5. Mai 2020 aus: https://noe.orf.at/stories/3047223/
[2] 30. Juni 2020 https://orf.at/stories/3171672/
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