
Aus dem Englischen von H. Dierlamm, H. Dedekind und A. Thomsen
Klett-Cotta, 4. Druckaufl., 2022
672 Seiten
ISBN: 978-3-608-98508-5 (Gebunden mit
Schutzumschlag)
Die Venus von Willendorf ist nicht länger eine Venus, sondern eine weise alte Großmutter. Wie alle Objekte diente auch sie Forscher*innen als Projektionsfläche, die durch die Brille
gesellschaftlicher Rollenbilder des 19. Jahrhunderts blickten und sie darum als Venus deuteten. Claudine Cohen, Wissenschaftshistorikerin, und Brigitte Röder, Prähistorikerin, gelangten aufgrund
ihrer Analysen unter Einbeziehung neuer Forschungsergebnisse zu diesem neuen Ergebnis. https://science.orf.at/stories/3212596/ Das ist eines von vielen Beispielen, das zeigt, wie wichtig es ist, bisherige Interpretationen immer wieder
zu überprüfen.
David Graeber (Professor für Anthropologie, wichtigster Vordenker der Occupy-Bewegung, 1961–2020), und David Wengrow (Prof. für Archäologie und Anthropologie, geb. 1972) analysierten die
bisherigen Interpretationen der Menschheitsgeschichte und fassten ihre über 10 Jahre andauernde Forschungsergebnisse in einem wirklich sehr gut lesbaren Buch zusammen.
Sie beschreiben, was bisher als Fakten und historische Gesetze präsentiert wurde wie zum Beispiel, dass größere Gruppen König*innen oder Präsident*innen haben müssen, dass alle Menschen zu Beginn
in einer idyllischen Form sozialer Organisation (Garten Eden) lebten und die Landwirtschaft immer mit der Entstehung von Privateigentum verbunden ist. Sie zeigen, dass es sich dabei um Vorurteile
handelt und erklären, wie es zu diesen kam.
Eine bisher fehlende Synthese aktueller anthropologischer und archäologischer Forschung wird von den Autoren nun vorgelegt. Sie zeigen, wie viele sozialen Organisationen es gab, die Freiheit,
Wissen und Glück in ihrem Fokus hatten. Sie dokumentieren, welch große Bedeutung und Wirkkraft indigene Lebensweisen, deren Weltverständnis und analytische Diskussionen auf westliches Denken
hatte und hat. „Anfänge“ macht bewusst, dass lineare Weltbilder erst seit kurzem bestehen und zwar mit „katastrophalen sozialen und psychologischen Folgen“. Bewegung und prozesshaftes Entwickeln
führt aus solchen Sackgassen. Beispielhaft erwähne ich jene Denkbewegung, die drei Aspekte umfasst: die Freiheit, sich zu bewegen, die Freiheit, nicht zu gehorchen, und die Freiheit, soziale
Beziehungen zu verändern.
Dieses Buch fordert Offenheit für auch unangenehme Einsichten. Es öffnet ein Fenster zu unerwarteter und noch größerer Diversität der Welt. Die Welt- und Menschheitsgeschichte anders zu
verstehen, lässt auch die eigene kulturelle und persönliche Geschichte anders verstehen und wirkt dadurch erhellend und bestärkt, das bisher Denkunmögliche mutiger zu leben. Wenn sich das
Zusammenleben verändert, verändert sich die Welt.
David Graeber und David Wengrow erzählen keine neue großartige einheitliche vollständige Menschheitsgeschichte, sie vermitteln Wissen, Erkenntnisse, Einsichten, Ausblicke, greifen provozierende
Ansätze auf, verweisen auf offene Fragen, lassen Leerstellen und regen zu gedanklichen Experimenten an, kreativ lebendig zu denken nach dem Motto: „Ein Mangel an Vorstellungskraft ist aber kein
Argument.“
Es ist ihr Anspruch „die Grundlagen für eine neue Weltgeschichte zu legen.“ Sie belegen, dass nicht irgendein männliches Genie seine ureigene Vision verwirklicht hätte, sondern die Entwicklung
der Menschheit darauf beruht, dass „die Innovation in neolithischen Gesellschaften auf einem jahrhundertelangen, vorwiegend von Frauen angesammelten Wissensschatz, der auf eine endlose Kette
scheinbar bescheidener, in Wirklichkeit jedoch ungemein bedeutsamer Entdeckungen aufbaute.“
Die beiden Wissenschaftler sind sich dessen bewusst, dass es viele Diskussionen und weitere Forschungen braucht, um die Folgen des neuen Bildes auch nur ansatzweise zu verstehen. „Dennoch ist es
von großer Bedeutung, den Prozess in Gang zu setzen.“ Das ist ihnen mit ihrem Buch gelungen, das in Deutsch bereits in der 4. Auflage vorliegt. Zentral für die Autoren sind zwei Aspekte: „Wir
Menschen sind Projekte kollektiver Selbsterschaffung.“ Und die Frage danach, „wie es dazu kam, in so engen konzeptionellen Fesseln gefangen zu sein, dass wir uns nicht einmal mehr die Möglichkeit
vorstellen können, uns neu zu erfinden?“
Ich staunte immer wieder und verspürte auch erheiternde Freude, weil gewagt wurde, neu zu denken, alles zu hinterfragen und positiv visionäre Handlungspotentiale aufzuzeigen.
Dieses faszinierende und inspirierende Buch ist ein, so finde ich, notwendiges Buch für alle. Ich empfehle es sowohl allen Lehrenden aller Fächer und Wissenschaftsdisziplinen als auch
Schüler*innen ab der 7. Schulstufe sowie Interessierten. Es verändert.
Das Buch trägt den Titel „Anfänge“ und steht selbst für einen geglückten Anfang, über unsere Menschheitsgeschichte miteinander ins Gespräch zu kommen.
April 2022
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