Übersetzung: Helmut Dierlamm
352 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag und 10 Schwarz-Weiß-Abbildungen
Piper 2023
€ 24,70
ISBN 978-3-492-07259-5
Auf der Eröffnungspressekonferenz der heurigen Frankfurter Buchmesse hielt Gaia Vince einen Vortrag. Sie ist eine mit Preisen ausgezeichnete britische Journalistin und Sachbuchautorin, die Klimakrise und globale Migrationsbewegungen in einen Kontext setzt, den sie in ihrem aktuellen Buch ausführt. Gaia Vince vertritt einen zu konservativer Politiker:innen entgegengesetzten Standpunkt: Migration ist nicht das Problem, sondern Teil einer Lösung. Dieser Gedanke bewog mich, ihr Buch zu lesen und hier vorzustellen.
„Eine große Umwälzung steht uns bevor. Sie wird uns und den Planeten verändern.“ sind ihre ersten Worte. Ich denke: Viele fürchten sich vor Veränderungen und ignorieren diese daher oder unternehmen alles, um nichts verändern zu müssen, was sich auch im gesellschaftlichen Rechtsruck zeigt. Dieser ist für Demokratien, wirksame Klimapolitik und eine gelingende Migrationspolitik eine Bedrohung.
Die Autorin spricht die Lesenden direkt an: „Auch Sie, meine Leserinnen und Leser, könnten im Zuge der kommenden Umwälzung zu einem plötzlichen, dringenden Exodus gezwungen sein, etwa weil der Klimawandel Ernten vernichtet hat und die Lebensmittelpreise extrem gestiegen sind, oder weil in Ihrem Land gewaltsame Konflikte ausgebrochen sind und das Leben nicht mehr sicher ist. Vielleicht verwüstet auch ein Hurrikan Ihre Stadt, oder Ihr Dorf wird vom Meer unterspült. Die Umwälzung kann plötzlich im Gefolge einer Katastrophe kommen oder sich langsam Stück für Stück vollziehen.“
Gaia Vince sieht die begründete Chance, diese Herausforderungen bewältigen zu können, indem sie in die Vergangenheit blickt: „Die Entwicklung des Menschen ist durch wachsende Kooperation und zunehmende Migration gekennzeichnet. Die Umwälzung, die uns erwartet, mag vielleicht beispiellos sein, doch sie entsteht durch eine lange Geschichte, die genau auf diesem adaptiven Verhalten gründet. Heute ist es Zeit für uns, diese angeborene Flexibilität in Bezug auf den Ort, an dem wir leben, wiederherzustellen. Wir haben heute die Chance zu erkennen, dass wir alle voneinander abhängig sind und dass unsere Gattung von der Natur abhängig ist, wenn wir ihre Gesundheit erhaltende Funktion zu unserem eigenen Schutz wiederherstellen.“ Wer und wie viele werden diese Chance ergreifen? frage ich mich. Weiters fällt mir das Buch Bleibefreiheit der Philosophin Eva von Redecker ein. Dem Recht auf nomadisches Sein stellt diese in ihrem Buch das Recht nicht wegziehen zu müssen ins Zentrum.
Das Buch ist verständlich geschriebenen, ein detailreich recherchierter Sachtext, in dem auch Empathie (sie ist Tochter und Enkelin von Flüchtlingen) mitschwingt und der zeigt, wie verschiedene Bereiche miteinander verknüpft und auch voneinander abhängig sind.. Strukturiert ist der Text nach der Einleitung in folgende 12 Kapitel: Die Katastrophe / Die apokalyptischen Reiter des Anthropozäns / Die Heimat verlassen / Am Rande des Wahnsinns / Der Reichtum der Migranten / Die neuen Weltbürger / Zuflucht Erde / Wohnraum für Migranten / Lebensräume im Anthropozän / Essen / Energie, Wasser, Material / Wiederherstellung. Das Buch endet mit einem Epilog und einem acht Punkte umfassenden knappen Manifest. Weiterführende Literatur, Anmerkungen und ein Register bieten interessante Informationen.
Die Kernaussage von Gaia Vince lautet: „Wir sind keine ohnmächtigen Zuschauer. Aber noch haben wir keinen konsequenten Plan. Wir erleben einfach, dass unsere Welt heißer wird, und reagieren auf jeden neuen Schock, jede Dürre, jeden Waldbrand, jedes neue Boot mit verzweifelten Migranten mit neuem Flickwerk. Wir müssen die Kontrolle über unsere Zukunft übernehmen, und das bedeutet: Wir müssen einen Plan entwerfen, um das Wohlergehen aller Menschen, ob reich oder arm, auf allen Kontinenten zu schützen, wenn wir uns den drastischen Umweltveränderungen in den kommenden Jahrzehnten stellen müssen. Das bedeutet auch, dass wir den Mut haben müssen, uns eine neue Art des Menschseins vorzustellen: ein Menschsein, in dem man frei ist, sich von seinem festen Wohnsitz zu lösen und sich frei zu bewegen und sichere Orte zu suchen.“
Ich denke: Dem kann entgegengehalten werden, dass es wohl Pläne gibt, sich die Umsetzung aber als langwierig, langsam, unmöglich oder immer wieder mit Rückschritten gestaltet, weil es immer wieder und immer noch an politischem Willen zur Umsetzung fehlt. Es braucht eine Regulierung und Begrenzung der Finanzströme und des Kapitalistischen Systems, fordert die Autorin und vor ihr bereits viele andere, allein es fehlt seit Jahrzehnten die politische Durchsetzung. Ob und wann sich alle Machthabenden zu diesem Ziel verbünden bleibt offen und fraglich. Die Realität ist, dass nur 45,7 Prozent aller Staaten liberale Demokratien sind. Hybridsysteme und autoritäre Staatsformen sind auf dem Vormarsch. Die Krisen unserer Zeit – wie Pandemie, Klimawandel und soziale Ungleichheit – stellen Demokratien vor ganz neue, zahlreiche Probleme. Autokratien, Diktaturen. Länder wie China und Russland machen ihren Anspruch als Weltmacht, ob geopolitisch oder wirtschaftlich, massiv geltend – mit Gewalt nach innen und außen. Sie haben den westlichen Demokratien den Kampf angesagt.
Flüchtlingsströme zu lenken, wird von diesen auch als politisches Mittel eingesetzt. Das Buch Wir und die Flüchtlinge von Gerald Gnaus ist ein wichtiger Beitrag zum Verstehen der gegenwärtigen EU-Politik, was diese bewirkt oder eben nicht bewirkt.
Gaia Vince nennt ein paar Zahlen zu Frauen, doch Genderpolitik und deren globale Bedeutung und Auswirkung ist für mich nicht ausreichend thematisiert. Ungleichheit greift sie anhand konkreter Zahlen und Beispiele auf, doch auch da zieht sie für mich nicht ausreichende Konsequenzen. Tatsache ist, dass die reichsten zehn Prozent der Menschheit am meisten vom gegenwärtigen Wirtschafts- und Steuersystem profitieren und dabei auch für mehr als die Hälfte des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich sind. Die Autorin bietet in ihrem Manifest allgemein formulierte Ziele wie Punkt zwei: „Wir müssen die Produktionskapazitäten der Gesellschaft neu ausrichten, um dem Klimawandel und der drohenden demografischen Krise zu begegnen.“ Wege dorthin, die sie auch in Geoengineering und Kernkraft sieht, werden von vielen jedoch als sehr problematisch eingeschätzt. Die Autorin motiviert, zu Handelnden zu werden, doch erwähnt sie Fridays for future, Greta Thunberg, Klimakleber u.a. nicht. Die Ursachen des Klimanotstands zu analysieren und die Lösungen sowohl bei den Ursachen als auch anhand gesellschaftspolitischer Visionsziele zu entwickeln, erscheint mir notwendig zu sein.
Nach dem Lesen des Buches Das nomadische Jahrhundert schwingen wahrscheinlich in jeder Person Erschrecken, Bedrohung, Hoffnung und konstruktive Impulse. Es braucht sowohl privat als auch gesellschaftspolitisch viele mutige kleine und viele mutige große Schritte und auf jeden Fall eine breite und differenzierte Diskussion, weil alle Menschen betroffen sind, jede*jeder hier und überall. Es braucht viele Sachbücher und Sichtweisen (z.B. den dünnen Band A Brief History of Equality von Thomas Piketty u.a.m.), um die komplexen Zusammenhänge des Klimanotstands zu verstehen. Der Untertitel des Buches lautet: Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird und ist damit ein Blick in die Zukunft. Diese ist auch davon abhängig, was JETZT getan wird.
Das Buch Das nomadische Jahrhundert ist eine gut lesbare Einstimmung ins komplexe Thema und eine geeignete Diskussionsgrundlage für Maturant:innen, Lehrer:innen und alle anderen, miteinander ins Gespräch zu kommen, Ambiguitäten zu diskutieren und gemeinsam weiter zu denken, zu fühlen und zu handeln.
Rezension
Ilse M. Seifried, MA
https://www.i-m-seifried.at
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