
von Hannes Grünbichler, Lehrer, Ziviltechniker und Gerichtssachverständiger
In einem Interview mit der Kleinen Zeitung [1] am 17. Dezember 2022 hat Bildungsminister Polaschek (ÖVP) recht ungehalten auf die Frage Georg Renners reagiert, ob „Politiker gerade jetzt, wo mehrere Viren und Krankheiten für überfüllte Spitäler sorgen“, auch vernünftige Überlegungen anstellen und über angemessene Maßnahmen in den Schulen nachdenken sollten. Akademisch versiert antwortet er mit: „Ich finde Ihre Frage – bei allem Respekt – nicht passend.“ Polaschek zweifelt daran, dass pädagogische Räume Orte der Virenübertragung sind, obwohl die Wissenschaft bereits alle Fragen hierzu eindeutig geklärt hat [2–6]. Während er also immer wieder durch „alternative facts“ in Interviews auffällt, fließen die Fakten — die also längst wissenschaftlicher Konsens sind — in Österreich in eine eigene „Schullüftungs“norm, i.e. ÖNORM H 6039, ein [7]. Belgien [8] und Frankreich [9] nehmen mit eigenen Gesetzen/Verordnungen zu „Sauberer Luft in Innenräumen“ in der EU sogar eine Vorreiterrolle ein. Es zeigt sich einmal mehr des Bildungsministers Verständnis für Wissenschaft.
Aus wissenschaftlichen Fakten werden bereits Normen und Gesetze gemacht.
Gemäß der „Schullüftungs“norm [7] steht gute Raumluftqualität im Schulbau für:
— Verbesserung der Luftqualität (z. B. CO2, flüchtige organische Verbindungen (VOC)) und dadurch
— höheres Konzentrationsvermögen und dadurch höhere Lernerfolge,
— Verbesserung der Behaglichkeit (z. B. Raumluftfeuchte, thermisch, akustisch) und damit
— verbesserte Komfortbedingungen für die anwesenden Personen,
— Verringerung des Eintrages von Luftschadstoffen (z. B. Feinstaub, Allergene, Mikroorganismen)
und damit
— Verringerung der Konzentration von virusbelasteten Aerosolpartikeln (z. B. SARS-CoV-2, Grippeviren),
— geringere Infektionsgefahr (z. B. Viren, Bakterien),
— reduzierte Belastung der Gesundheit,
mit allen damit zusammenhängenden volkswirtschaftlichen Aspekten.
Aber „sowohl im Neubau als auch im sanierten und unsanierten Altbau zeigen Messungen, dass eine natürliche Lüftung allein in der Regel nicht ausreichend ist, um während der Nutzungszeiten die hygienisch erforderliche Innenraumluftqualität […] sicherzustellen“ heißt es im Allgemeinen Teil der Norm, der eine Zusammenfassung des aktuell gültigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes ist. Für die erforderliche Innenraumluftqualität soll ein Grenzwert von 1000 ppm-CO2 gelten. Und dieser Wert hält seit 150 Jahren.
Die CO2‑Konzentrationen müssen aber auch gemessen werden, damit die richtigen Maßnahmen getroffen werden können, mehr dazu im Leitfaden zum Gebrauch von CO2-Sensoren zur Verbesserung von Luftqualität und Infektionsschutz in Innenräumen.
Also fassen wir zusammen: Die Kohlenstoffdioxid-Konzentration (CO2-Konzentration) in der Innenraumluft ist das zentrale Kriterium (Indikatorsubstanz) für die Raumluftqualität in Innenräumen. Die Luft in pädagogischen Räumen ist so schlecht, dass sie mehr krank macht als sie zu einer gesunden Lernumgebung beiträgt. Die Verantwortlichen im BMBWF sollten wissen, dass die Luftqualität verbessert gehört und das sollten sie jedenfalls seit 15 Jahren wissen, seit der Veröffentlichung der LUKI(= „LUft und KInder“)-Studie 2008 [10]. Darin wird aufgezeigt, dass in drei Viertel aller untersuchten Klassenräume der maximale gleitende Stundenmittelwert von 1400 ppm‑CO2 deutlich überschritten wird und die CO2‑Konzentration in keiner der untersuchten Klasse unter dem Grenzwert von 1000 ppm‑CO2 bleibt.
Warum bleibt Österreichs Bildungsminister hier untätig? Jedenfalls ist die Frage zu stellen, ob er der richtige Mann am Platz ist: Denn ein Bildungsminister sollte sich für eine förderliche Lernumgebung einsetzen, dafür muss er sich nur das französische Gesetz für Saubere Luft in Innenräumen ansehen. Saubere Luft wird in Frankreichs Schulen und Kindergärten höchste Priorität eingeräumt [9], nicht nur wegen des Infektionsschutzes sondern auch für die Verbesserung des Lernerfolges.
Die Verantwortlichen im BMBWF meinen, Stoßlüften reiche. Sie irren. Rechnungen beweisen es!
Bei einem Szenario mit einer Lehrperson und 25 Schülern – im Durschnitt 1.60 m groß und 54 kg schwer; bei einem metabolischen Äquivalent (met) von 1.2 und einer nach ÖNORM EN ISO 8996 [11] angenommenen CO2-Produktion von 17.5 l/h – in einem Standard-Klassenzimmer mit 200 m³ Rauminhalt errechnet sich ein Anstieg der CO2‑Konzentration von ca. 2200 ppm‑CO2/h. In 20 min steigt die CO2‑Konzentration also von dem bei der vorherigen Lüftung erreichten Ausgangswert (z.B. 540 ppm‑CO2) um ca. 740 ppm-CO2 an. Der Grenzwert von 1000 ppm‑CO2 wird also sehr rasch überschritten. Der CO2-Wert am Beginn einer Unterrichtsstunde (= 50 min) wird aber nicht bei 420 ppm‑CO2 (= Außenluft) liegen, sondern eher irgendwo zwischen 500 und 600 ppm‑CO2 (wenn wirklich gelüftet wurde) oder deutlich darüber. Nach nur 20 min liegt der CO2-Wert in einem Klassenraum zwischen 1150 und 1300 ppm‑CO2, wenn im Winter stoßgelüftet wird; sonst liegt der Absolutwert nach nur einer Unterrichtsstunde bei ~2250 oder bei ~4100 ppm-CO2 nach einer Doppelstunde.
Im Winter nach nur jeder Stunde 5 min zu lüften ist zu wenig, aber auch alle 20 min zu lüften reicht nicht!
Das Problem ist, dass typischerweise bei einem 5-minütigem Lüften, z.B. nach der Stunde und in den kleinen Pausen selbst im Winter nur ein zweifacher Luftwechsel erreichbar ist (5 min/60 min ∙ 24/h), d.h. die Konzentration wird höchstens auf ca. 15 Prozent des Maximalwertes reduziert werden, also zwischen (740 / 0.85 + 420 ppm‑CO2 =) 1290 ppm‑CO2 und 540 ppm‑CO2 pendeln. Der Mittelwert liegt bei 915 ppm‑CO2 oder höher. Die ausgetauschte Luftmenge läge im Beispiel bei 4/50 min = 4.8/h, wenn die 20/5-Regel eingehalten wird.
Das Einhalten eines gleitenden Mittelwertes von 1000 ppm-CO2 (Pendeln zwischen 540 und 1290 ppm‑CO2) ist unter optimalen Bedingungen im Winter gerade noch möglich, eines nach Arbeitsschutz konformen Grenzwertes von 1000 ppm-CO2 ist mit dieser Methode nicht einmal mehr im Winter möglich, während der Übergangszeit und im Sommer ist sie völlig untauglich. Dies wird auch durch zahlreiche vorliegenden Studien bestätigt, insbesondere bei Außentemperaturen über 10 °C [12, 13]. Der Grund liegt schlicht darin, dass die für das Stoßlüften erforderlichen Öffnungsflächen die typisch in Klassenräumen vorhandenen Fensterflächen von rund 8 bis 10 m² um das ca. 3‑fache übersteigen [14, 15].
„Urban myth“: Stoßlüften sei energieeffizienter als Dauerlüften – wir alle haben das geglaubt.
Arbeitsschutz-konformes Lüften ist in Klassenräumen im Allgemeinen nur durch Dauerlüften möglich und es benötigt aber CO2-Sensoren um die Größe des Lüftungsspaltes zu bestimmen.
Durch CO2 geführtes Dauerlüften mit gekippten Fenstern [16] kann ohne Störung des Unterrichts und extreme Temperaturschwankungen eine maximale CO2 Konzentration von 1000 ppm‑CO2 durch 2200 ppm‑CO2/h/(1000 – 420) ppm‑CO2 = 3.8/h eingehalten werden, mehr dazu im Teil I. In der Praxis werden die Werte wegen der Quelllufteffekte beim Dauerlüften – Lüftungseffizienz > ca. 1.2 [12] – noch wesentlich niedriger liegen, so dass in etwa 3 Luftwechsel pro Stunde (im Vergleich zu 5 LW pro Stunde beim Stoßlüften) für die Einhaltung der 1000 ppm‑CO2 nötig wären. Dies würde den lüftungsbedingtem Heizwärmebedarf reduzieren, weil der lüftungsbedingte Energieverlust primär von der ausgetauschten Luftmenge abhängig ist. Insofern ist Dauerlüften in diesem Fall effizienter als Stoßlüften.
Literatur
- Renner G (2022) Bildungsminister Polaschek: „Die Frage war immer: Müssen Schüler Masken tragen?“. Seit einem Jahr ist Martin Polaschek (ÖVP) Bildungsminister. Ein Gespräch über Masken in der Schule, Begabtenförderung und ausstehende Reformen. Kleine Zeitung
- Zangerle R (2022) Gegen den Stammtisch: Kleiner Digest zu Atemwegsinfektionen. https://cms.falter.at/blogs/athurnher/2022/12/23/25360/. Zugegriffen: 23. Dezember 2022
- Zangerle R Die #Covid-Superwelle kommt wahrscheinlich nicht. Über RSV, Grippe und Volksaberglauben, betreffend das Immunsystem. https://cms.falter.at/blogs/athurnher/2022/12/24/die-covid-superwelle-kommt-wahrscheinlich-nicht-ueber-rsv-grippe-und-volksaberglauben-betreffend-das-immunsystem/. Zugegriffen: 24. November 2022
- Willeit P, Krause R, Lamprecht B, Berghold A, Hanson B, Stelzl E, Stoiber H, Zuber J, Heinen R, Köhler A, Bernhard D, Borena W, Doppler C, Laer D von, Schmidt H, Pröll J, Steinmetz I, Wagner M (2021) Prevalence of RT-qPCR-detected SARS-CoV-2 infection at schools: First results from the Austrian School-SARS-CoV-2 prospective cohort study. Lancet Reg Health Eur 5:100086. doi:10.1016/j.lanepe.2021.100086
- Goldstein E (2022) On the role of different age groups in propagating Omicron epidemics in France. Pre-print: doi:10.1101/2022.12.22.22283867
- Heinsohn T, Lange B, Vanella P, Rodiah I, Glöckner S, Joachim A, Becker D, Brändle T, Dhein S, Ehehalt S, Fries M, Galante-Gottschalk A, Jehnichen S, Kolkmann S, Kossow A, Hellmich M, Dötsch J, Krause G (2022) Infection and transmission risks of COVID-19 in schools and their contribution to population infections in Germany: A retrospective observational study using nationwide and regional health and education agency notification data. PLoS Med 19(12):e1003913. doi:10.1371/journal.pmed.1003913
- Austrian Standards International (2022) Lüftungstechnische Anlagen — Kontrollierte mechanische Be- und Entlüftung von Schul-, Unterrichts- oder Gruppenräumen sowie Räumen mit ähnlicher Zweckbestimmung. Anforderungen, Dimensionierung, Ausführung, Betrieb und 91.140.30 (ÖNORM H 6039). Zugegriffen: 27. Dezember 2022
- Gesetz vom 6. November 2022 zur Verbesserung der Luftqualität in Innenräumen an geschlossenen, öffentlich zugänglichen Orten. C – 2022 / 34199
- Arrêté du 27 décembre 2022 fixant les conditions de réalisation de la mesure à lecture directe de la concentration en dioxyde de carbone dans l’air intérieur au titre de l’évaluation annuelle des moyens d’aération. ELI : https://www.legifrance.gouv.fr/eli/arrete/2022/12/27/SPRP2231361A/jo/texte
- Hohenblum P, Kundi M, Gundacker C, Hutter H-P, Jansson M, Moosmann L, Scharf S, Tappler P, Uhl M (2008) LUKI – LUft und KInder. Einfluss der Innenraumluft auf die Gesundheit von Kindern in Ganztagsschulen, Wien
- Austrian Standards International (2022) Ergonomie der thermischen Umgebung – Bestimmung des körpereigenen Energieumsatzes (ISO 8996:2021) 13.180 (ÖNORM EN ISO 8996). Zugegriffen: 28. Dezember 2022
- Ostmann P, Derwein D, Kremer MT, Rewitz K, Müller D (2022) Wirksamkeit der einseitigen Fensterlüftung in Klassenräumen : Stoßlüfung. Lehrstuhl für Gebäude- und Raumklimatechnik. RWTH Aachen University. doi:10.18154/RWTH-2022-01310
- Müller D, Rewitz K, Derwein D, Burgholz TM, Schweiker M, Bardey J, Tappler P (2020) Empfehlung zum erforderlichen Luftwechsel in Schulen, Großraumbüros, Hörsälen und Turnhallen zur Reduzierung eines aerosolgebundenen Infektionsrisikos. RWTH Aachen University. doi:10.18154/RWTH-2020-10366
- BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2012) ASR A3.6. Lüftung. https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regelwerk/ASR/pdf/ASR-A3-6.html. Zugegriffen: 29. Dezember 2022
- Knaus C, Hartmann T, Mai R, Döge S, Krause R, Spitzner, Martin H (2019) Entwicklung von Handlungsempfehlungen für praxisgerechte Lüftungskonzepte und eines CO2-Berechnungstools. Endbericht. Aktenzeichen 10.08.17.7-17.24.
- Fitzner K, Finke U (2012) Lüftungsregeln für freie Lüftung. Forschung Projekt F 2072. BAuA, Dortmund, Berlin, Dresden
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