Jürgen Sprickler über die

 

„Meilensteine der Pädagogik: Notenwahrheit, Leistungstests für Schüler*innen der 3. und 7. Schulstufe, verpflichtenden Förderunterricht und vor allem –
Schluss mit linken Experimenten!“


Simple Botschaften, sie klingen gut, so gut, so einfach, dass ein erheblicher Teil der – ach so mündigen – Bürgerinnen und Bürger aufspringt auf den Zug ins eigene Verderben.
Bei näherer Betrachtung hält das von Regierungsseite so sehr gepriesene Paket dann nämlich nicht annähernd das, was es verspricht, sondern entpuppt sich relativ rasch als Rucksack, gefüllt mit
Mühlsteinen, der schwer auf den Schultern der Pädagoginnen und Pädagogen lastet.

Mir jedenfalls ist keine ernstzunehmende Person aus dem Bildungssektor bekannt, die in dieser Mogelpackung Innovation und Fortschritt erkennen
kann.

Dabei geht es mir keinesfalls um eine ideologische Deutung des sogenannten Paketes, sondern um eine nüchterne Gegenüberstellung dessen, was in
den Schulen wirklich benötigt und dem, was hier angeboten oder besser aufgezwungen wird. Die inzwischen triumphierend abgeschafften „linken Experimente“ müssen in den letzten Jahrzehnten an mir
allerdings völlig unbemerkt vorbeigezogen sein, habe ich doch die permanente Regierungsbeteiligung der ÖVP stets als Brems- klotz für pädagogischen Fortschritt erlebt. Aber so unterschiedlich
kann Wahrnehmung ganz offensichtlich sein.

Bildungsminister Heinz Faßmann, ein Universitätsprofessor mit durch- aus beachtlicher Reputation, schiebt wissenschaftliche Erkenntnisse wissentlich beiseite und ordnet sie einem antiquierten und
rückschrittlichem Verständnis von Pädagogik unter.
Kinder wollen doch Noten, sie wollen sich messen, er verstehe die Aufregung nicht. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, er hat allerdings einen kurzen aber entscheidenden Zusatz vergessen –
gute Noten! Schlechte Noten will kein einziges Kind und auch nicht dessen Eltern. Aber es gibt sie nun einmal, jene Kinder, die mit schlechten Voraussetzungen  in die Schulen kommen, Kinder
aus kaputten oder zerrütteten Familien, Kinder, die sehr wahrscheinlich ebenso ihre Talente und Begabungen haben, die sie aber unter diesen pädagogischen Rahmenbedingungen ganz sicher nicht
entwickeln können.
Wieder einmal sei der Blick in die pädagogischen Vorzeigeländer erwähnt, in denen es keine Beurteilung bis weit ins Jugendalter gibt, dafür aber viel Unterstützung und Förderung, anstelle von
Druck und Forderung. Und, wie erstaunlich, die Kinder und Jugendlichen dort sind trotzdem zu einem hohen Prozentsatz erfolgreich, die Lehrpersonen ausgeglichener und zufriedener, ausgestattet mit
hoher gesellschaftlicher Akzeptanz und Anerkennung.

Seit langer Zeit setzen sich viele Schulen intensiv mit den unterschiedlichsten Formen alternativen Leistungsbeurteilung auseinander. Nicht selten auch gegen große Vorbehalte von Elternseite
wurden mit viel Engagement brauch- bare und wesentlich aussagekräftigere
Beurteilungsformen entwickelt. Inzwischen bin ich überzeugt: auch diese sind für eine beträchtliche Zahl von Kindern suboptimal, wenngleich – vor allem in Verbindung mit den KEL-Gesprächen –
dennoch um Welten besser, als ein paar simple Ziffern, die der Persönlichkeit eines Kindes natürlich niemals gerecht werden können. Ich bin mir aber mittlerweile ganz sicher, dass Kinder,
speziell im Volksschulalter, keine Beurteilung, keinen Richterspruch brauchen, sondern eine ehrliche, permanente Rückmeldung, die sie auch Tag täglich in der Zusammenarbeit mit ihren Lehrpersonen
bekommen.

Den Fokus müsste eine verantwortungsvolle Regierung auf die Schwächeren der Gesellschaft legen.

Sie müsste mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die Spaltung der Gesellschaft zu verhindern und somit den sozialen Frieden zu wahren. Ganztagsschule für alle, mit qualitativ
hochwertigem Mittagessen und gutem Bewegungs- und Freizeitangebot!
An unserer Schule haben wir in jahrelanger Knochenarbeit, weil oft fehlender Unterstützung, ein Angebot geschaffen, das sich durchaus sehen lassen kann. Jede Ganztagsklasse besucht wöchentlich
das Hallenbad, erhält dort von ausgebildeten Trainern professionellen Schwimmunterricht, jede  Ganztagsklasse verbringt zwei Stunden in der Woche in der Natur,  begleitet von
Freizeitpädagog*innen, alle Kinder erlernen das sichere Radfahren auf schuleigenen Fahrrädern, bekommen Musik- und Instrumentalunterricht, können aus verschiedenen Angeboten wie Kochen, Spanisch
und vielem mehr auswählen.
Klingt grundsätzlich gut, wären da nicht zahlreiche Hindernisse und Schwierigkeiten, die das betreuen- de Personal, egal ob Lehrer*in oder Freizeitpädgog*in, nahezu jeden Tag, an den Rand der
Überforderung bringt. Da wäre zum einen die soziale Durchmischung der Ganztagsklassen.

Eine ungeheure Fülle an zusätzlichen Herausforderungen, die bei weitem nicht zu den pädagogischen Kernaufgaben zählen, ist die Folge dieser
Entwicklung.

Sie ist unter den derzeitigen Voraussetzungen einfach nicht gegeben. Wir erleben eine sich dramatisch verändernde Gesellschaft, die immer mehr Aufgabenbereiche an die Bildungseinrichtungen
abschiebt. Was dies für das pädagogische Personal bedeutet, kann man sich kaum ausmalen. Immer mehr Kinder kommen hungrig, wenig ausgeschlafen, unvorbereitet, schlecht gepflegt, unglücklich oder
krank in die Schule.

Eine ungeheure Fülle an zusätzlichen Herausforderungen, die bei weitem nicht zu den pädagogischen Kernaufgaben zählen, ist die Folge dieser Entwicklung. Lehrpersonen und Freizeitpädagog*- innen
sind überfordert und fühlen sich im Stich gelassen. Die Folgen sind absehbar: Burnout, lange Kranken- stände oder Kündigungen. Und dies alles in Anbetracht eines bereits spür- baren und sich
weiter verschärfenden Lehrer*innenmangels.
Zum anderen muss auf die dringende Notwendigkeit von zusätzlichem pädagogischem Fachpersonal hingewiesen werden. Seit vielen Jahren fordern wir eine faire und menschenwürdige Anstellung der
Freizeitpädagog*innen. Sie wer- den sehr schlecht bezahlt, im Sommer jeweils gekündigt, haben kaum Fort- bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Bereits 2014 habe ich in einem persönlichen Gespräch
mit der damaligen Landesrätin Bernadette Mennel diese Problematik erklärt und geschildert. Auch die Dornbirner Bürgermeisterin Andrea Kaufmann war anwesend. Ich habe vor- geschlagen, dass
Freizeitpädagoginnen größeren Volks- und Mittelschulen zugeteilt werden, um flexibel eingesetzt werden zu können und die Lehrpersonen vor Ort zu entlasten. Von beiden Politikerinnen erfuhr ich
viel Zustimmung und Verständnis für das Anliegen.
Fünf Jahre später hat sich genau gar nichts getan. Weder Bund, noch Land, noch Gemeinden fühlen sich zuständig. Von ca. 150 ausgebildeten oder kurz vor ihrem Abschluss stehenden
Freizeitpädagog*innen wurden gerade einmal knapp 30 angestellt. Alle anderen suchen oder suchten sich andere Jobs, obwohl sie in den Schulen dringend benötigt würden. Möglicherweise ist es ja
auch beabsichtigt, das System „Ganztagsschulen“ an die Wand fahren zu lassen. In logischer Konsequenz zu den sonstigen Rückschritten – sollen doch auch die Frauen wieder ihren eigentlichen
Aufgaben zugeführt werden – Kinderbetreuung und Haushalt!

Die zuständigen Politikerinnen und Politiker sollten sich dringend ein Bild von der Situation vor Ort machen, um zu sehen, was sie mit ihrer verfehlten
(Bildungs-) Politik anrichten.

Die allermeisten Lehrerinnen und Lehrer tun jeden Tag, jede Schulstunde und darüber hinaus, was sie können. Ganz sicher können sie aber nicht sämtliche Probleme der Gesellschaft lösen. Die
ursprünglichsten Umgangsformen wie sich zu grüßen, sich zu bedanken, sich respektvoll gegenüber seinen Mitmenschen zu benehmen funktionieren bei vielen Kindern nicht mehr. Wie soll eine Schule,
so engagiert sie auch sein mag, eine Wertevermittlung nachholen, die im Elternhaus nie stattgefunden hat? Wie soll sie Kinder aus Analphabeten Elternhäusern, auf denselben Bildungsstand wie
Kinder aus Akademikerkreisen, die von frühster Kindheit eine optimale Förderung erhalten haben, bringen?

Den Lehrpersonen wird permanent vermittelt, dass sie zu wenig leisten, dass die Ergebnisse nicht passen, dass sie sich zu wenig anstrengen. Wenn Schulen noch mehr leisten sollen, dann braucht es
dringend mehr Geld für Autonomie, deutlich mehr (Support-)Personal für soziale Hilfestellungen, sowie individuelle und gezielte Förderung und bestens ausgestattete Schulen, in denen ausreichend
Bewegungsmöglichkeiten, kreative Entfaltung, aber auch Ruhe und ein „Herunterfahren“ für die Kinder möglich ist.
Stattdessen müssen wir über Noten für Sieben-, Acht- und Neunjährige diskutieren, über Klassenwiederholungen von Kindern, die gerade erst mit ihrer Ausbildung angefangen haben,
über einen Zwang zum Förderunterricht oder über Deutschklassen. Das lenkt ab, von dem, was wirklich wichtig ist, hält aber die Themen dieser Regierung permanent am Köcheln.

All diese Maßnahmen sind nicht dazu angetan, unser Bildungssystem an die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts heranzuführen und sie verhindern ebenso wenig das dramatische Auseinander- driften der
Gesellschaft.

 

Jürgen Sprickler ist Leiter einer großen Volksschule im Westen